Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
sind. Ich habe gar nicht erst versucht, ihn mit einem Kamm bekannt zu machen. Und er starrt dich mit diesem Blick an, ich weiß nicht … einem Blick wie die Dunkelheit, wenn sie am tiefsten ist und man sich danach sehnt, ein Licht anzumachen.«
Ihre Mutter schob den Teller von sich weg und sah Svenja einen Moment lang an. »Wir sollten jetzt zu deiner Wohnung gehen«, sagte sie dann. »Ich würde ihn sehr gerne kennenlernen.«
Svenja sah ihn gleich, als sie den Jakobusplatz betraten. Sie hatte gedacht, er würde frühestens abends auftauchen. Sie hatte noch zwei Pflichtveranstaltungen. Der Plan war gewesen, ihrer Mutter die Wohnung zu zeigen, sie dann mit einem Taxi in ihr Hotel zu schicken und sie zum Abendessen wiederzutreffen.
Aber dort saß er, vor dem Holunder. Saß in der Sonne und sah ihnen über den Platz entgegen. Seine verfilzten Haare fielen über die Hand, auf die er das Kinn gestützt hatte. Seine dunklen Augen blickten ein wenig misstrauisch, wie immer. Als er Svenja sah, glitt ein halbes Lächeln über seine schmalen Lippen.
»Mein Gott«, sagte Svenjas Mutter. »Was für ein hübscher Junge.«
Nashville stand auf, als sie bei ihm ankamen.
»Das ist meine Mutter«, sagte Svenja.
Nashville schwieg.
Sie stiegen zu dritt die dustere, steile Innentreppe hinauf.
»Sie besucht mich, aber sie wohnt im Hotel«, sagte Svenja.
Nashville schwieg.
»Ich muss gleich noch mal los«, sagte Svenja im Flur. »Zur Uni. Ich bin erst um sechs Uhr abends wieder hier …«
Nashville schwieg.
Svenja führte ihre Mutter durch sämtliche Räume und zeigte ihr alles mit merkwürdigem Besitzerstolz. Das ist mein Bett. Das ist mein Küchentisch. Das ist mein Kühlschrank. Das ist mein Leben. Nashville lehnte schweigend im Türrahmen der Küche und beobachtete sie. Svenja erwartete, dass jeden Moment etwas geschah – dass er davonrannte, unters Bett kroch, aus dem Fenster aufs Dach kletterte. Doch er stand nur da.
Als alles gezeigt und erklärt war, fuhr Svenjas Mutter mit einer Hand über die Wand.
»Es sieht so frisch gestrichen aus.«
»Ja«, sagte Nashville und verließ seinen Platz im Türrahmen, um zu ihr hinüberzugehen. »Ich habe geholfen. Es sind drei Schichten. Weiß ist eine schwierige Farbe, Schwarz wäre viel einfacher gewesen, das ist immer so. Nächte und Wälder sind schwarz, Schatten auch, weiß ist gar nichts, nur der Schnee, aber der ist so kalt, dass man innendrin doch wieder ganz schwarz wird. Wenn Svenja jetzt weg ist, kann ich Ihnen die Stadt zeigen. Ohne Schwarz-Weiß. Heute ist gutes Wetter, da ist sie in Farbe.«
»Die Stadt zeigen? In Farbe?«, fragte Svenjas Mutter mit einem Anflug von Erstaunen. Dann hielt sie Nashville ihren Arm hin, als wäre er ein altmodischer Kavalier, der sie führen würde. »Es wäre mir ein Vergnügen.«
Svenja schüttelte den Kopf. »Ich glaube …«
»Geh du zu deinen Seminaren«, sagte ihre Mutter und lächelte. »Ich denke, wir kommen klar.«
Svenja schluckte.
Sie ging noch einmal ins Schlafzimmer, um sich einen Pullover zu holen, schloss die Tür und setzte sich aufs Bett. Alles war in Ordnung. Nashville sprach mit ihrer Mutter, und ihre Mutter sprach mit Nashville, und natürlich kamen sie klar. Sie nahm die Verantwortung ab wie einen zu engen, schmerzenden Helm. Dann band sie ihre Schuhe neu, deren Leinenstoff heute gelber strahlte als sonst, froh und unbeschwert.
Als sie dabei war, die zweite Schleife nachzuziehen, sah sie das Glänzen unter dem Bett. Ganz hinten, in einer Ecke. Sie zog das Bett von der Wand weg und griff in die Ritze dahinter. Ihre Finger ertasteten kaltes Metall.
Was sie hervorzog, war ein Messer. Ein Taschenmesser mit einem hölzernen Griff, ähnlich dem von Thierry. Da war noch ein zweites Messer, ein nagelneues stählernes Fleischmesser, an dem noch das Preisschild klebte.
Kartoffel- und Messerladen Kornhausgasse, 76 Euro 50 .
Svenja wurde heiß. Zigaretten aus ihrer Tasche zu klauen, war das eine. Stahlmesser in einem Geschäft zu klauen, war etwas ganz anderes. Sie fand noch ein drittes Messer, und dieses erkannte sie. Es gehörte in Katleens Küche. Es war das erste Stück einer abstrusen Sammlung. Andere Kinder sammelten
Darth-Vader
-Figuren, Nashville sammelte Messer.
»Aber wozu?«, flüsterte sie. »Was willst du damit?«
Sie legte ihren Fund an den alten Platz zurück und rückte das Bett wieder an die Wand. Ihr war leicht übel.
Nashville und ihre Mutter standen noch immer in der Küche und
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