Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
vielleicht lief die EKG -Linie umgekehrt.
»Svenja, du willst das nicht hören«, flüsterte Friedel, »aber ich l…«
»Sch, sch«, sagte sie, und in diesem Moment fing es an zu regnen.
»Es regnet eine Menge in diesem Sommer, was?«, sagte Svenja. »Zeit, nach Hause zu gehen.«
Sie träumte von Flaschen und Tüten. Sie hörte den Wecker nicht. Das Handy weckte sie um neun Uhr.
»Guten Morgen«, sagte ihre Mutter. »Du hast meine SMS nicht bekommen, nehme ich an. Macht nichts. Ich stehe hier am Bahnhof. Sag mir nur, wie ich zu dir finde.«
Svenja schüttelte die Tüten und Flaschen aus ihrem Kopf. »Nein, warte. Ich bin gleich da.«
Sie fand Nashville in keinem der Schränke. Sie würde ihn später suchen. Sie schlüpfte in eines ihrer zu weiten Männerhemden, stieg in ihre Jeans und rannte. Verdammt, dachte sie, denn das Fahrrad stand noch immer vor dem Telekom-Laden und hatte noch immer eine abgesprungene Kette. Es grüßte sie sonnengelb und leicht verschlafen, als sie an ihm vorbeikam. Es hatte nicht nur eine abgesprungene Kette. Es besaß auch keine Klingel, kein Licht und keine Katzenaugen mehr.
Svenja hetzte weiter zum Bahnhof, dessen Eingang von noch mehr halb toten Fahrrädern verborgen wurde. Ihre Mutter saß auf den Stufen. Sie sah ein wenig verloren aus, wie sie da wartete, den Koffer neben sich, die Arme um die Knie geschlungen wie ein kleines Mädchen. Sie rauchte. Svenja hatte sie nie rauchen sehen. Vielleicht hing es mit ihrem Vater zusammen, der nicht mehr da war und der immer zu viel geraucht hatte, vielleicht musste sie ihm jetzt nicht mehr zeigen, dass das nicht nötig war. Sie lächelte, als sie Svenja sah, drückte die Zigarette aus und verstaute sie ordentlich in der Packung.
»Svenja!«
»Mama.«
Sie umarmten sich, und Svenja spürte den weichen Stoff ihres Seidenschals an der Wange, sauber und kühl. Die Menschen, die sie in letzter Zeit umarmt hatte, hatten sich ganz anders angefühlt: zerzaust, bartstoppelkratzig – oder mager und zerbrechlich. Staubige Hemden, verregnete T-Shirts voller Walderde, Jacken, getränkt mit dem Geruch nach Bier.
All diese Menschen hatten Geschichten zu erzählen gehabt, hatten Svenja gedrängt zuzuhören, hatten gewollt, dass sie etwas tat. Der kühle saubere Stoff, an den sie sich jetzt schmiegte, wollte nichts.
»Wir könnten im
Pfauen
frühstücken«, sagte Svenja. »Da kann man schön draußen an der Straße sitzen. Es ist überhaupt, wenn es nicht regnet, eine Stadt der Draußensitzer.«
»Du siehst müde aus«, sagte ihre Mutter. »Aber sonst noch so wie immer. Ich hatte schon befürchtet, du wärst jemand anders geworden.«
Svenja lachte. »Ich glaube, keiner wird im Studium jemand anders. Man wird nur mehr man selbst.«
»Sehr philosophisch.«
»Ja«, sagte Svenja. »Aber ich lebe auch mit einem Philosophen zusammen. Er ist neun. Oder dreizehn. Nein, nicht da lang. Nicht durch die Unterführung.«
Sie sah das verwirrte Gesicht ihrer Mutter. »Aber hier steht:
Zur Innenstadt.
Neun?«
Svenja starrte in das schwarze Maul der Unterführung. Sie war nicht lang, innen mit Graffiti verziert, nur eine Unterführung.
»Okay«, sagte sie. »Wir gehen da lang. Es ist natürlich der kürzeste Weg. Aber du musst mich an die Hand nehmen.«
»Und du musst mir ein paar Sachen erklären«, sagte ihre Mutter.
Die Stelle, wo sie den Zugfütterer gefunden hatten, war nicht mehr abgesperrt.
Alles in der Unterführung war gleich duster, gleich dreckig und gleichgültig. Man sah überhaupt nicht, wo er gelegen hatte.
Svenja ließ die Hand ihrer Mutter erst auf der anderen Seite der Unterführung los. Der Anlagensee lag pennerfrei im Morgenlicht. Die Kastanien blühten. Die langen flachen Betonbauten der Schulen erstreckten sich neben den Wiesen wie große, sonnige Steine. Vor ihnen standen Gruppen von älteren Schülern herum, redeten und rauchten.
»Also?«, fragte Svenjas Mutter vorsichtig.
»Ich … später.«
Bei einer der Schülergruppen, ein paar Jungen von vielleicht vierzehn Jahren, stand eine kleine Gestalt mit zerzausten Haaren, die ihnen etwas hinhielt. Svenja begriff erst mit kurzer Verzögerung, was es war: einzelne Zigaretten. Geld wechselte Hände, Münzen verschwanden in der Tasche der kleinen, zerzausten Gestalt. Nashville.
Er vertickte ihre Zigaretten an Schüler, dachte Svenja.
Vermutlich mit einem geringen Aufpreis für die Umgehung des Alterslimits … Kein schlechtes Geschäft.
Etwas in ihr wollte über die
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