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Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Titel: Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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hörte ihre Mutter summen.
    Wenn sich die späten Nebel dreh’n,
    werd’ ich bei der Laterne steh’n …
    Und auf einmal war alles gut. Die Namen der Venen und Arterien flossen mit der Musik in ihren Kopf, sie würde es schaffen, sie zu behalten, sie würde alles schaffen. Ihre Mutter mochte Nashville, und Nashville mochte ihre Mutter, und vielleicht war Svenja ein kleines bisschen eifersüchtig, aber das war in Ordnung so. Und vielleicht, natürlich nur vielleicht … gab es da eine Zukunft. Ihre Mutter würde sich nicht ewig freinehmen können, natürlich, sie hatte einen Job. Aber … was wäre denn, wenn sie ein Kind hätte? Ein zweites Kind, neben Svenja? Wenn sie zurück war in ihrer Wohnung; wenn sie merkte, wie allein sie dort war, vielleicht käme sie ja selbst auf den Gedanken.
    An diesem Abend, als Nashville unter dem Bett eingeschlafen war, saßen sie vor dem offenen Küchenfenster und tranken Abendwein aus Kaffeetassen. Die aufgedruckten braunen Rosen schwammen darin wie ein verwelkter Garten.
    »Danke«, sagte Svenja. »Du tust so viel. Viel zu viel.«
    »Seit dein Vater weg ist … oder ich weg bin … habe ich wieder eine Menge freie Kapazitäten.« Ihre Mutter lachte leise.
    »Ich frage mich, ob er ist wie Friedel«, sagte Svenja. »Einfach zu chaotisch.«
    »Möglich. Dein Vater war immer … zwanzig Jahre jünger als ich, obwohl wir gleich alt sind. Ich kenne deinen Friedel ja nicht.«
    »Es ist nicht
mein
Friedel«, sagte Svenja und seufzte. »Das wäre er gern, aber er ist es nicht.«
    Eine Weile schwiegen sie, dann sagte Svenjas Mutter: »Diese Sache hier … Nashville … Ich werde jetzt das sagen, was du nicht hören willst.«
    Svenja hielt ihre Tasse fest. »Ja?«
    »Er ist … ein sehr lieber kleiner Junge. Aber es gibt eine Menge Dinge, die nicht stimmen mit ihm.«
    »Das ist mir aufgefallen«, sagte Svenja, und sie dachte, dass »lieber kleiner Junge« die einzige Beschreibung war, die nicht auf Nashville passte. Gerade deshalb war sie seltsam gerührt, dass ihre Mutter das sagte.
    »Irgendwann wird dir das Ganze über den Kopf wachsen«, sagte Svenjas Mutter. »Ich glaube, dass er Hilfe braucht. Dass jemand ihn sich mal ansehen sollte. Ein Psychologe …«
    Svenja stellte ihre Tasse ab und sprang auf. »Und dann? Dann malt er seinen Namen mit Rot statt mit Blau, und daraus ziehen sie alle möglichen fatalen Schlüsse, und sie sperren ihn ein und machen ihn kaputt und …«
    »Nein«, sagte ihre Mutter leise. »Das will ich auch nicht. Aber er sollte eine Chance haben, normal und glücklich zu sein. Und du solltest diese Chance auch haben.« Sie stand auf und fuhr Svenja durchs Haar. »Du bist erst achtzehn.«
    »Ich
bin
doch glücklich. Alles ist in Ordnung.«
    »Ich weiß nicht«, sagte ihre Mutter leise. »Ich werde jetzt gehen. Ins Hotel. Wir sehen uns morgen.«
     
    Svenjas Mutter blieb vier Tage lang. Länger ging es nicht.
    Sie kochte und fragte Svenja Anatomie ab und las Nashville vor. Er lief kein einziges Mal weg. Svenjas Mutter kaufte neue Turnschuhe mit ihm.
    Dreimal war Svenja kurz davor, ihr die Sache mit den Morden zu erzählen.
    Sie tat es nicht.
    Als sie am Morgen des fünften Tages am Bahnhof standen, waren sie allein. An diesem Morgen war der Platz unter dem Bett leer gewesen.
    »Ich glaube, er will sich nicht schon wieder verabschieden«, sagte Svenja. »Ich glaube, er mochte dich sehr.«
    »Ich werde ihn wiedersehen«, sagte ihre Mutter. »Wo immer er dann wohnt. Ich besuche ihn, versprochen. Ich mag ihn auch.«
    »Du hoffst immer noch, dass ich ihn weggebe.«
    »Irgendwann wirst du es tun müssen, Svenja.«
    Sie seufzte. »Ja. Ja, ich weiß.«
    Sie umarmten sich ein letztes Mal, ehe Svenjas Mutter in den Zug stieg, und Svenja fühlte sich ein letztes Mal geborgen und beschützt. Aber als ihre Mutter oben in der Tür stand, da sah sie mit einem Mal sehr klein aus.
    »Bis demnächst«, sagte sie. »Rufst du mal an, wenn du Zeit hast?«
    »Ich rufe an«, sagte Svenja.
    Und dann fuhr der Zug ab. Unter der blauen Brücke hindurch. Hoffentlich würde niemand den Zug vergiften. Svenja sah zur Brücke hoch, wo niemand mehr stand, um die Züge zu füttern. Doch. Dort stand jemand. Eine kleine, magere Gestalt klebte am Geländer und sah hinab, und als der Zug unter der Brücke hindurchfuhr, machte die Gestalt eine Bewegung mit der Hand, als würde sie etwas hinunterstreuen: Zugfutter.
    »Nashville!«, rief Svenja, die Hände an den Mund gelegt. Aber er hörte sie

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