Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
unterhielten sich.
»Ich … gehe jetzt«, sagte Svenja leise. »Nashville? Kann ich vorher kurz allein mit dir sprechen?«
Als er ihr in den Flur folgte, wirkte er schuldbewusst. So sehr, dass er ihr beinahe leidtat.
»Hör mal«, begann sie. »Du hast da etwas mitgehen lassen …«
»Die Zigaretten.«
Nein, dachte Svenja, sie meinte nicht die Zigaretten. Aber es war viel bequemer, mit ihm über Zigaretten zu sprechen als über die Sammlung unter dem Bett. Sie würden ein andermal über die Sammlung reden.
»Ja«, sagte sie leise. »Du vertickst
meine
Zigaretten an die Schüler beim Anlagenpark.«
Er griff in die Hosentasche, suchte eine Weile und streckte ihr schließlich eine Kinderhand voller Münzen hin.
»Dafür kannst du neue kaufen«, flüsterte er. »Ich behalte bloß den Unterschied. Zwischen dem, was sie richtig kosten, und dem, wofür ich sie verkaufe. Aber
ich
kann die nicht am Automaten ziehen. Ich bin zu jung zum Zigarettenziehen.«
»Und
die
sind zu jung zum Rauchen.« Sie seufzte.
Am Küchenfenster stand der Rücken ihrer Mutter und sah hinaus auf die Stadt, ruhig und erwachsen. Wie machte sie das nur? Wie machte man das, erwachsen zu sein? Entscheidungen zu treffen, irgendwo zwischen Weiß und Schwarz?
Svenja betrachtete die Münzen in Nashvilles Hand. Sie nahm sie nicht.
Wozu brauchst du das Geld?, wollte sie fragen. Du bekommst doch hier alles. Essen. Kleidung. Buchstaben.
Da steckte er ihr die Münzen in die Hosentasche. Seine schmale Kinderhand verweilte etwas länger in ihrer Tasche als notwendig, sie spürte ihre Wärme wie die eines kleinen Tieres, das gerne tiefer gekrochen wäre, um sich zu verbergen.
»Das ist natürlich Quatsch«, wisperte er, und sein Blick hielt sie einen Moment lang fest. »Dass ich zu jung bin für die Automaten. Ich bin für gar nichts zu jung.«
10 Schränke
Es gab zwei Schilder, eines mit
KARTOFFELLADEN
, eines mit
MESSERLADEN
. Auf dem Rückweg von der Uni blieb Svenja eine Weile davor stehen und versuchte sich vorzustellen, wie Nashville dieses Geschäft betrat, mitten im Gewusel von Touristen und Einheimischen. Wie sein schmaler Körper sich durch die schwitzende, atmende Biomasse von Menschen drängte, das Messer nahm, es in seinem Ärmel versteckte, sich hinausschlängelte … Warum?
Konnte er das eine Messer nur vergessen, wenn er andere dafür sammelte, sie ansah, sie berührte? Sie versuchte, die Spuren seiner Gedanken zwischen den Regalen zu finden, und wusste, dass es unmöglich war. Schließlich ließ sie sich vom Strom der Menschen am Ammerkanal entlangtragen und zum Platz unter der Kastanie spülen, wo der König unverändert auf seinem Fahrrad fuhr, den kleinen Vogel vor sich auf der Stange. Aber falls sie sahen, was nachts in den Straßen geschah, so verrieten sie es nicht weiter.
Svenjas Augen fanden Gunnar, ehe sie begriff, dass sie ihn gesucht hatte. Er saß auf seinem gewohnten Platz im Schatten der grünen Blätter, vor sich auf dem Tisch das Notebook und mehrere Bücher. Er blätterte, las, tippte. Er sah nicht auf. Neben ihm stand eine Tasse Kaffee. Sie dachte an die Szene mit dem Bier, das er einfach auf den Tisch gekippt hatte, und ihr wurde warm.
»Ich mag dich sehr, Gunnar Holzen«, flüsterte sie. Dann wandte sie sich ab und ging nach Hause.
Die Wohnung war leer.
Die Fenster in der Küche standen offen, der sonnige Tag wehte herein. Heute gab es keine Regenwolken.
»Hallo?«, fragte Svenja in den leeren Raum.
»Hier«, sagte ihre Mutter.
Svenja machte einen Satz vor Schreck – und öffnete die Türen des großen alten Küchenschranks. Sie passten gerade so beide hinein. Und sie standen beide auf dem Kopf: Nashville und ihre Mutter.
»Es sieht alles völlig anders aus so herum«, sagte sie. Sie kam auf die Beine, langsamer als Nashville, und atmete eine Weile schwer. »Aber es ist ziemlich anstrengend, die Dinge andersherum zu sehen. Wäre es eine gute Idee, wenn ich was koche? Wir haben eingekauft.«
Svenja sah Nashville an. Er zuckte die Schultern, beinahe entschuldigend.
»Es wäre eine sehr gute Idee«, sagte Svenja. »Ich habe festgestellt, dass ich nächsten Montag schon wieder ein Präp-Testat habe.« Sie schüttelte sich. »Wenn du kochst, würde ich mal anfangen, mir das Bein anzugucken …«
Und dann saß sie auf dem Bett, den Atlas und den
Schiebler
aufgeschlagen. In der Küche hörte sie Töpfe klappern, und dazwischen klangen die Töne des Akkordeons. Diesmal war es
Lili Marleen
. Sie
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