Nasses Grab
gekommen war, hatte noch niemand von der Mumie in der Metro gewusst. Das war lange vor dem Hochwasser gewesen. Oder hatte Hora ihn damals gesehen und nur auf eine Gelegenheit gewartet, ihn zu verraten? Wenn Hora dieser anonyme Anrufer war, dann war vielleicht noch nicht alles verloren. Jay hatte ihn gut bezahlt, obwohl er natürlich alles abgestritten hatte. Warum also sollte Hora die Gans schlachten, die goldene Eier legte? Nein, der Alte war sicher klug genug, sein Wissen für sich zu behalten. Allerdings war er auch gierig, und Jay hatte eine Erhöhung der Zahlungen abgelehnt. Vielleicht hatte Hora den Mord begangen? Eifersucht war ein erstklassiges Motiv.
Er selbst dagegen hatte keines. Er lächelte wehmütig. Er selbst war ja glücklich verheiratet gewesen und hatte kein Motiv gehabt, Dana umzubringen. Lenka. An sie hatte er während der letzten Tage überhaupt nicht gedacht. Gab es außer ihm überhaupt jemanden, der an sie dachte, sie vermisste? Mit aller Kraft drängte er die Gedanken an Lenka zurück in den tiefsten Abgrund seines Gedächtnisses. Ließe er sie zu, er würde den Verstand verlieren. Wie hatte er das alles nur tun können, damals, als er … nein! Nur nicht mehr daran denken. Nie wieder.
Jay steckte sich eine Zigarette an. Er machte sich keine Illusionen. Niemand würde ihm glauben, dass er nichts mit Danas Tod zu tun hatte. Die Einzige, die ihn retten konnte, war die Nachbarin. Und Venca – vielleicht. Jahrelang waren sie einander bei verschiedenen gesellschaftlichen Anlässen begegnet, doch nie hatten sie zu erkennen gegeben, dass sie wussten, wer der andere war. Jay zweifelte keinen Augenblick daran, dass Venca ihn erkannt hatte. Es war eine Art stillschweigender Übereinkunft gewesen, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Es war an der Zeit, mit seinem alten Freund zu sprechen.
Doch vorher musste er noch etwas erledigen. Er musste herausfinden, was in dieser Wohnung geschehen war, bevor er die Tote gefunden hatte, damals. Wer hatte sie bloß auf dem Gewissen? Jay ließ in Gedanken noch mal alle Fakten, alle Anhaltspunkte Revue passieren. Die böse Ahnung, die sich schließlich langsam in seinem Hirn zur Gewissheit verdichtete, bereitete ihm Angst. Es musste ein Ende haben, endlich. Er warf die Zigarette fort und ging entschlossen Richtung Karlsbrücke davon.
David Anděl löste sich schwerfällig von der Wand, an der er seit ein paar Minuten gelehnt hatte. Der Anruf hatte ihn vor einer Viertelstunde erreicht, auf dem Weg nach Hause. Ein Todesfall in der Metro am Nationalmuseum. Eine Frau. Wird das jetzt zu einer neuen Mode?, hatte er sich genervt gefragt. Mord in der Metro zum Zweiten. Der Bürgermeister würde begeistert sein. Gott sei Dank war es keine Touristin.
Nun, immerhin waren sie bei dem ersten Mord einen entscheidenden Schritt weiter. Sie kannten die Identität der Leiche. Gut, es fehlte noch die Bestätigung durch den DNA-Test, aber das war, wie er glaubte, nur noch eine Formalität. Alle Indizien sprachen dafür, und nicht zu vergessen der anonyme Anrufer. Der allerdings war nun keine Hilfe mehr. Milan Hora war tot. Und die Durchsuchung seiner Wohnung hatte bisher nur wenig ergeben. Der Mann hatte gelebt wie ein Spartaner. Kaum Möbel, so gut wie keine persönlichen Dinge, lediglich einige Rechnungen. Nur unter dem Bett hatten sie kistenweise Fotos gefunden. Und ein außergewöhnlich gut gefülltes Portemonnaie in Horas Hosentasche.
Antonín Cajthaml, der das Haus beobachtet hatte, hatte gute Arbeit geleistet. Seine Notizen waren präzise, und er hatte die Weitsicht besessen, einen jungen Kollegen mitzunehmen – für alle Fälle.
Anděl war sich sicher, dass der Mord an Hora mit der Mumie zusammenhing. Spätestens jetzt brauchten sie sich keine Sorgen wegen der Verjährung zu machen. Der Mörder von damals hatte wieder zugeschlagen. Natürlich, es konnte auch Zufall sein, doch daran glaubte Anděl keinen Augenblick. Auch Selbstmord konnten sie ausschließen – an Horas Händen waren keine Schmauchspuren gewesen. Das bedeutete aber auch, dass der Mörder von Dana Volná in der Stadt war. Beziehungsweise die Mörderin. Eine kaltblütige Person. Am hellen Mittag in eine Wohnung zu spazieren und einen Mann zu erschießen. Amerikanische Verhältnisse. Was für eine Ironie, dachte er, einen Mord zu begehen, um die Aufklärung eines verjährten Mordes zu verhindern.
Bei der Suche nach dem Motiv für den Mord an Dana Volná allerdings waren sie noch keinen Schritt weiter.
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