Nasses Grab
Sekunden später heulte die Sirene auf, und die Automassen teilten sich wie das Rote Meer beim Auszug der Israeliten aus Ägypten. Jedenfalls soweit das in der engen Straße möglich war.
»So sollte es sein«, sagte Anděl zufrieden. »Gleich sind wir da.«
»Für wen?«, fragte Nebeský.
»Für wen was?«
»Den Haftbefehl.«
»Für den Heiligen Geist, Nebeský. Die Kousalová natürlich.«
»Die Kousalová? Wieso?«
»Versuchter Mord an Honza Krasnohorský. Mord an Milan Hora. Mord an Alena Freeman.«
Nebeský starrte ihn an. »Hast du den Verstand verloren, Anděl?«, fragte er schließlich. »Den kriegst du niemals. Das können wir alles nicht beweisen. Was ist mit dem Oberst?«
»Nein, habe ich nicht, im Gegenteil. Und ob ich …«, begann Anděl, doch dann hielt er inne. Nebeský hatte recht, verdammt. Es waren reine Spekulationen. Die alte Nachbarin von Hora hatte ihr ein Alibi gegeben, egal, was es wert sein mochte. Und die bloße Tatsache, dass Markéta Kousalová bei Honza Krasnohorský gewesen war, machte sie noch nicht zu einer Mörderin. Und was Alenas Tod anging – das war nur der Hauch einer Vermutung. Kein Haftbefehl. Niemals.
»Mist. Du hast recht. Aber die Frau steckt da tiefer drin, als sie zugibt.«
»Mag ja sein, aber wir haben keine Beweise, außer dass sie in diesem Haus war. Vielleicht kriegen wir einen für den Oberst – der war ja auch da. Und in Horas Wohnung.«
»Vergiss es. Da müssen wir schon mehr haben. Ruf trotzdem an und bitte das Väterchen, alles über den Oberst rauszukriegen, was er kann. Er hat Verbindungen zum Geheimdienst. Die von der Spurensicherung sollen die Kugeln von Alena und Krasnohorský vergleichen. Wenn es die gleiche Waffe war …«
»Glaubst du, der Oberst …«
»Keine Ahnung, aber der Mann hat mehr damit zu tun, als er uns sagt. Er war bei Hora, und er war bei Krasnohorský – Hora ist tot, und den anderen hat es auch fast erwischt. Nur bisher haben wir nicht den Hauch eines Motivs. Aber da muss was sein. Und Meda soll feststellen, ob die Kousalová eine Waffe hat.«
»Die muss nicht registriert sein, du weißt doch selbst, wie einfach es ist, sich so ein Ding auf dem Schwarzmarkt zu besorgen, wenn man es wirklich will.«
»Ruf an, verdammt. – Was ist denn das für ein Hornochse da vorn? Aus dem Weg, du Idiot!« Anděl hupte ausgiebig.
Nebeský zog abermals eine Braue hoch und tat, wie ihm geheißen.
Milena Axamit war gerade dabei, den Schädel, den sie aus den unzähligen Knochenfragmenten mit geschickten Fingern wieder zu einem Ganzen zusammengefügt hatte, einzuscannen. Sie hatte stundenlang konzentriert gearbeitet, unterstützt von ihrer Mutter, die nach dem Gespräch mit Magda sichtlich erleichtert gewesen war. Als sei eine große Last von ihr genommen worden. Milena fühlte sich nicht halb so gut. Sie hatte Magda diese Geschichte nie erzählen wollen. Wozu auch? Dana war tot – so oder so. Ob vor fünfundzwanzig Jahren oder vorgestern spielte keine Rolle. Und sie hatte sich die ganzen Jahre nicht ein einziges Mal gemeldet. Hatte nie versucht, ihre Tochter zu sehen. Milenas Wut war noch immer so frisch wie damals in jenem Sommer, als sie mit Dana die acht Wochen zu Hause verbracht hatte. Vorbei. Erledigt. Doch die Wut verrauchte nicht. Sie zwang sich, nicht daran zu denken.
»Es ist gut geworden«, sagte ihre Mutter, die ihr über die Schulter blickte.
Milena nickte. »Zum Glück habe ich meinen Laptop dabei. Müsste ich das von Hand fertig machen, säßen wir noch ein paar Tage dran. Den Rest macht jetzt der Computer.« Sie drückte ein paar Tasten und drehte sich um. »Ich könnte einen Kaffee gebrauchen.«
Ihre Mutter strich ihr sanft eine Strähne aus dem Gesicht.
»Verzeih ihr, Milena. Es ist Zeit.«
Milena sah ihre Mutter an. Aus dem mit einem Netz feiner Fältchen überzogenen Gesicht blickten sie liebevoll braune Augen an. Anna war noch immer eine schöne Frau, trotz ihrer zweiundachtzig Jahre. Es hatte ihr gutgetan, die Bürde loszuwerden. Sie hatte Jahre abgeworfen. Wahrscheinlich hatte sie doch recht gehabt. Aber Dana verzeihen?
»Wie kann ich das? Sie hat sie einfach zurückgelassen wie – wie einen alten Hut! Ihre eigene Tochter! Sie ist fortgegangen von uns, hat nie wieder etwas hören lassen. Und dann kommt sie plötzlich und verlangt, dass ich ihr dabei helfe, ihr Kind loszuwerden! Dieses egoistische Miststück!«
»Betrachte es doch einmal anders«, sagte Anna. »Als sie in Schwierigkeiten war, ist sie zu
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