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Natalia, ein Mädchen aus der Taiga

Natalia, ein Mädchen aus der Taiga

Titel: Natalia, ein Mädchen aus der Taiga Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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mahagonifarbenes Haar wehte um ihren schmalen Kopf, die schlanken Beine in den hohen schmutzigen Stiefeln wurden bis weit über die Knie sichtbar, als der Bauernrock sich etwas blähte. Die zerrissene Bluse war wieder offen, Michail sah die festen Brüste, von einem einfachen Halter aus grobem Leinen bedeckt … Nichts, die armseligste Kleidung nicht, konnte ihre junge, bei aller Zartheit gesunde, kräftige Schönheit verbergen.
    In Tassburg stieg ein merkwürdig weiches Gefühl auf. Er wünschte sich plötzlich, daß Natalia Nikolajewna sich seinem Schutz anvertrauen und in Satowka bleiben möge. Wenn dieser Kassugai wirklich erscheinen sollte, würde er zum erstenmal in seinem Leben spüren, wie Prügel schmecken. Vor etwaigen Bezirkskommissaren, die seine Freunde waren, weil er sie bestach, hatte Tassburg keine Angst. Hinter ihm stand das mächtige Forschungsministerium in Moskau. Ein Funkspruch an die Zentrale, und auch ein Kassugai, der wie ein kleiner König in seiner Taigaregion herrschte, konnte in die Bergwerke von Nagadan versetzt werden …
    »Du bist hübsch«, sagte Michail mit trockener Zunge. »Nein! Du bist schön, Natalia Nikolajewna.«
    Sie beugte sich sofort wieder über den Suppentopf und rührte eifrig in dem Gulasch. Der Duft durchzog jetzt das Zimmer. Sie hob den Holzlöffel an den Mund und probierte vorsichtig.
    »Wunderbar!« erklärte sie. »Wann habe ich so etwas gegessen? Ich kann mich nicht erinnern. Ab und zu haben wir ein Kaninchen geschlachtet, oder Kassugai brachte ein Stück Fleisch mit, als er begann, sich für mich zu interessieren. Aber gebraten wurde das Fleisch nie, nur gekocht … Das gibt Suppen, Michail Sofronowitsch, eine ganze Woche lang! Man kann es immer wieder auskochen, bis es auseinanderfällt wie Stroh.« Sie drehte sich um, und ihre großen Augen, die das Gesicht beherrschten, musterten ihn nachdenklich. »Was ist der Unterschied zwischen hübsch und schön?«
    »Hübsch ist – eine Puppe zum Beispiel. Hübsch ist etwas Oberflächliches … Schönheit ist ein Zusammenklang von vielem – ist die nach Vollendung suchende Natur, sie – wächst von innen heraus. Verstehst du?«
    »Nein.« Sie lehnte sich gegen die aus großen Flußsteinen gemauerte Ofenwand. »Ist ein Sonnenuntergang hübsch oder schön?«
    »Unendlich schön …«
    »Und die Stickerei an einem Festtagskleid?«
    »Hübsch …«
    »Jetzt verstehe ich es.« Sie lächelte schwach, und dieses Lächeln überzog ihr Gesicht mit einem solchen Leuchten, daß Tassburg schneller atmete.
    »Ich decke den Tisch«, sagte er rauh.
    Aus einem Regal nahm er zwei tiefe Keramikteller und Löffel. Er stellte alles auf den Tisch, die Löffel aus Edelstahl waren verbogen und zerkratzt. Dann setzte er sich auf die verfluchte Eckbank, und Natalia kam mit dem dampfenden Topf und schüttete die beiden Teller randvoll.
    »Ich zittere vor Hunger«, sagte sie, als sie sich Tassburg gegenübersetzte. »Es ist meine erste warme Mahlzeit seit zwölf Wochen …«
    Sie tauchte den Löffel in das Gulasch, probierte, fand es zu heiß und blies auf den Löffel. Sie zitterte wirklich – wie ein Tier, das plötzlich, vom Hunger zermürbt, vor einer vollen Schüssel sitzt und nicht essen kann, weil ein Drahtzaun dazwischen ist.
    »Du wirst von heute ab nur noch warm essen!« sagte Tassburg heiser. »Ich habe genug Vorräte. Und wir werden frisches Fleisch in der Taiga schießen und uns von den Bauern Gemüse holen. Willst du für mich kochen?«
    »Nein«, sagte sie und kaute endlich das erste Gulasch. Ihr Gesicht verklärte sich, als habe sie einen Blick in die Seligkeit getan. »Es geht nicht, Michail Sofronowitsch. Ich kann nicht hierbleiben. Kassugai …«
    »Du solltest Kassugai vollständig vergessen, wenn du bei mir bist!«
    »Wie ist das möglich? Es gibt ihn – nach wie vor! Es müßten tausend Werst zwischen ihm und mir sein, erst dann hätte ich Ruhe.«
    Sie aß jetzt schneller, das Gulasch hatte sich abgekühlt. Sie kaute kaum noch, sie schluckte und schluckte, schob den vollen Löffel nach, als habe sie Angst, daß ihr jemand den Teller wegnehme.
    Tassburg aß selbst nur ein paar Löffel und schob dann seinen Teller Natalia zu. Sie nickte dankbar und aß weiter.
    »In tausend Werst Entfernung bist du nicht sicherer als hier!« sagte Tassburg. »Gerade wenn ich fort bin, wird keiner dieses Haus betreten.«
    »Wegen der verfluchten Gräfin?« Sie lächelte ihn zwischen zwei hochgefüllten Löffeln mit Gulasch und Nudeln an.

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