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Natalia, ein Mädchen aus der Taiga

Natalia, ein Mädchen aus der Taiga

Titel: Natalia, ein Mädchen aus der Taiga Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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geschaffen, als gehörten sie schon zusammen und als sei es nie anders gewesen.
    Noch ist sie da, dachte er. Noch streift Kassugai durch die Taiga und sucht sie. Das Kopfgeld, das er ausgesetzt hatte, war noch Wirklichkeit! Natalia wird in dem Haus bleiben müssen – noch Wochen oder sogar Monate! Nirgends ist sie sicherer …
    Tassburg biß sich auf die Unterlippe. Er hatte sich bei dem häßlichen Gedanken ertappt, Kassugai möge noch recht lange nach Natalia suchen …
    Der Vorsänger Ostap schwieg. Tigran kam aus der Sakristei zurück, feierlich ernst, mit dem stechenden Blick, der jedermann in Satowka in die Knie zwang. Zum Zeichen einer ungeheuren Verinnerlichung sträubte sich auch der Bart. In den Händen trug er wie einen Kelch einen Aluminiumtopf mit einer breiigen, gelblichen Masse. Die Einwohner von Satowka bekreuzigten sich.
    »Nimm das, mein Sohn!« sagte Tigran mit seinem dröhnenden Baß. »Es wird dich vor den Angriffen der Hölle schützen!«
    Tassburg nahm den Topf entgegen und betrachtete die breiige Masse nachdenklich. Sie roch nach nichts, was ihn wunderte, denn alles muß einen gewissen Geruch haben, um das einfache Volk von Wirkungen zu überzeugen. Eine Medizin, die nicht bitter schmeckt, wird scheel angesehen. »Muß ich das essen?« fragte Michail, um den sich ehrfurchtsvolle Stille ausgebreitet hatte.
    »Heiliger, nein!« schrie der Pope. »Die Hölle bedient sich ja in Ihrem Falle einer weißen Frau, die schon hundertfünfzig Jahre tot ist! Bestreichen Sie mit diesem Brei jede Nacht Ihre Stirn und die Pfosten Ihres Bettes – kein Höllengeist wird sie dann jemals mehr anrühren!«
    »Amen!« sang Ostap, der Tenor.
    »Ahnen Sie, was der Brei enthält?« fragte Tigran dunkel.
    »Nein.«
    »Er ist eine Mischung aus dreihundert geweihten Oblaten und einem Viertelliter geweihtem Wein! Wo Sie den Brei aufstreichen, entsteht gegen die Hölle eine unüberwindliche Mauer! Dieser Gedanke kam mir gestern nacht, als ich um Ihr Leben betete.«
    »Genial, Tigran Rassulowitsch! Was muß ich noch machen?«
    »Das genügt!« Der Pope blickte die Leute von Satowka an und war zufrieden. Die Wirkung, die sein ›genialer Einfall‹ hinterlassen hatte, war enorm. Der Idiot Jefim Aronowitsch hockte auf dem Boden und starrte den Popen mit offenem Mund an. Seine Augenwinkel zuckten, als hätte er unter elektrischen Schlägen zu leiden.
    Der Pope fragte: »Wie sah die weiße Frau genau aus, Michail Sofronowitsch?«
    »Sie trug ein langes, weißes Kleid. Ihre hellbraunen Haare waren offen …«
    »Hellbraun?« Tigran zerwühlte seinen langen Bart. »Die Gräfin Albina Igorewna Borodawkina hatte schwarze Haare! Das steht in den Aufzeichnungen.«
    Tassburg drehte sich um. Um ihn herum knieten die Einwohner von Satowka, in der vordersten Reihe die Witwe Anastasia. Neben ihr hockte der Vorarbeiter des Bautrupps und grinste seinen Chefingenieur verständnisvoll an. Was sollte er tun …
    »Wir wissen jetzt, daß die Aufzeichnungen falsch sind!« sagte Tassburg laut, zum Äußersten entschlossen. »Sie hat hellbraunes Haar. Oder hat einer von euch schon die Gräfin Albina gesehen? Hat einer von euch sie packen wollen und an den Händen rotes Wasser zurückbehalten?«
    »Blut!« stöhnte Tigran dumpf.
    In Jefims Augen verstärkte sich das Zucken. Der Idiot ließ sich plötzlich fallen, zog die Beine so dicht an, daß die Knie an sein Kinn stießen, und begann zu wimmern. Schaum quoll über seine Lippen, er schlug um sich, und seine Finger waren wie zu Krallen gebogen. Niemand kümmerte sich um ihn – man kannte das in Satowka. Wenn Jefim Aronowitsch seinen Anfall bekam, so war das, als wenn andere husten. Meistens sprach er bei seinen Anfällen, und was er dann sagte, war merkwürdigerweise klüger als alles, was man in Büchern oder Zeitungen las. Auch das wunderte keinen. Seit Jahrhunderten weiß man in Rußland, daß die Narren einen Hauch von Heiligkeit haben, und wer früher etwas auf sich hielt, leistete sich seinen eigenen Narren, zuletzt Zar Nikolaus II. der neben Rasputin auch ein paar Epileptiker als Sucher der Wahrheit am Hofe beschäftigte. Ein ›heiliger Idiot‹ – das ist in Rußland so etwas wie bei anderen Völkern die Wahrsager, Kartenleger und Handleser. Man lächelt über sie, aber wenn sie in Aktion treten, überrinnt einen eine eisige Haut.
    Jefim Aronowitsch also lag auf dem Kirchenboden, verdrehte die Augen und stieß unverständliche Laute aus. Ab und zu schnellte er mit dem ganzen Körper

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