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Natalia, ein Mädchen aus der Taiga

Natalia, ein Mädchen aus der Taiga

Titel: Natalia, ein Mädchen aus der Taiga Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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hohlen Händen brüllte er durch das Dorf: »Er hat's überlebt! Mit Blut an den Händen!« Das alarmierte selbstverständlich alle Einwohner Satowkas, und als sie vor der Kirche anlangten, folgte ihnen eine Menge Leute, nicht nur gutgläubige alte Weiblein, sondern auch die stärksten Bauern. Sie rissen die Mützen ab, betraten die Kirche und warteten stumm, was der Pope Tigran nun wohl anstellen würde mit dem Herrn Ingenieur aus der Stadt.
    Zunächst ließ Tigran die Männer vortreten, die am Sonntag im Kirchenchor sangen. Der Vorsänger Ostap Leonidowitsch war darunter, ein finster blickender Kerl, der Zobel und Hermeline, Nerze und Biber in Fallen fing. Es waren selbstkonstruierte, ganz raffinierte Dinger, die keinem Tier eine Chance ließen.
    Wenn ein Fremder Ostap im Walde begegnete, erschrak er zutiefst, so wild und böse sah er aus. Aber wenn er in der Kirche sang, dann hörte man nur seine Stimme, einen strahlenden Tenor voller Wohllaut, der allen Psalmen etwas Ergreifendes, ja Göttliches verlieh.
    »Was man so im Radio hört …«, sagte einmal sogar der Pope, der sonst mit Lob nicht so schnell bei der Hand war, »in den Opern und Oratorien, ist jämmerlich gegen Ostaps Stimme! Sein Pech, daß er nicht in Moskau oder Leningrad wohnt. Welch ein internationaler Opernstar wäre er geworden! Aber wer hört ihn schon in Satowka? Und wer hat Geld, um nach Moskau zu reisen und dort vorzusingen? Aber seien wir zufrieden. Ostap singt für uns und zu Gottes Ehre – das wird ihm der Himmel einst bezahlt machen!«
    Bezüglich solcher Versprechungen war man zwar in Satowka skeptisch, aber man nahm sie hin, weil es nichts anderes gab. Außerdem war man sich darüber klar, daß Ostap bei seinem Aussehen nie eine Opernkarriere hätte machen können: Nie hätte er den Siegfried singen können, höchstens den Drachen. Oder gar einen Liebhaber? Jede Partnerin wäre sofort in Ohnmacht gefallen, wenn er sie umarmt hätte!
    Jetzt aber fiel niemand um. Ostap Leonidowitsch holte tief Atem, sein Brustkorb wölbte sich weit – und dann sang er, daß einem die Tränen kommen konnten: »Herr, Dein Auge wache über uns …«
    Tigran Rassulowitsch legte Tassburg ein Kreuz auf den Kopf, verbrannte ein schrecklich stinkendes Kraut, das er Weihrauch nannte (war es dieselbe Substanz wie sein berühmter Tabak?), und ging dann nach hinten in die Sakristei, die noch keiner betreten hatte und die auch niemand besichtigen durfte. Nicht, weil es ein besonders heiliger Raum war, sondern weil hier der Pope besonders schöne Marder- und Nerzfelle von Tieren, die er aus Ostaps raffinierten Fallen herausholte, aufbewahrte. Der Vorsänger wunderte sich schon seit geraumer Zeit, daß seine Jagdbeute immer geringer wurde. Er schob es auf die Intelligenz der Tiere, die den Trick seiner Fallen langsam erkannt hatten – denn jedes Gottesgeschöpf hat ein Hirn oder zumindest einen Instinkt. Den Popen kontrollierte keiner, wenn er einmal im Jahr nach Batkit fuhr, schwer beladen, um Nachschub an Kerzen und anderen heiligen Dingen zu holen. Kam Tigran Rassulowitsch dann zurück, leichter, als er von Satowka losgezogen war, aber mit einigen hundert Rubelchen in der Tasche, hatte er auch Kerzen und allerlei Devotionalien bei sich. Keinem fiel das besonders auf – außerdem ist der Himmel voller Wunder.
    Ostap sang noch immer, die Einwohner von Satowka jubelten die Refrains mit und vorn an der Ikonostase wartete Tassburg, wie es weitergehen würde. Dabei dachte er an Natalia Nikolajewna. Nach dem, was er heute morgen den Leuten von Satowka erzählt hatte, war sie sicher; niemand würde das Haus betreten. Die Idee mit dem roten Wasser an den Händen war gut gewesen.
    Ich werde in Satowka bleiben, solange ich es verantworten kann, dachte er. Nach den geologischen Berechnungen kommen nur ein paar Stellen in dieser Gegend in Betracht, wo man nach Erdgas bohren könnte, aber es gibt so viele Möglichkeiten, so viele unvorhergesehene Pannen, die uns zwingen können, hier zu überwintern. Bis zum Frühjahr wird es Natalia gelingen, die nächste große Stadt, etwa Krasnojarsk, zu erreichen und dann für immer unterzutauchen. Kassugai wird sie dann nie mehr einholen …
    Plötzlich, bei diesem Gedanken, umrahmt vom Gesang der Gläubigen, empfand er in sich eine merkwürdige Schwere. Ihm wurde klar, daß auch er dann Natalia nie mehr wiedersehen würde. Nur wenige Stunden war ihre Bekanntschaft alt – aber die vergangene Nacht hatte etwas so Vertrautes zwischen ihnen

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