Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Natalia, ein Mädchen aus der Taiga

Natalia, ein Mädchen aus der Taiga

Titel: Natalia, ein Mädchen aus der Taiga Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
Vom Netzwerk:
hoch, um dann klatschend wieder auf den Steinboden zu stürzen. Es sah erschreckend aus.
    »Warum hilft ihm denn keiner?« rief Tassburg und wollte sich über Jefim beugen. Aber Tigran hielt ihn zurück.
    »Nicht ein blaues Fleckchen wird er haben!« sagte er ganz ruhig. »Zuerst wollte ich es auch nicht glauben, aber dann habe ich mich selbst davon überzeugt: kein Kratzerchen, keine Beule, gar nichts! Lassen Sie ihn! Narren sind besondere Menschen, Michail Sofronowitsch. Da, hören Sie selbst! Er ist von Ihnen so begeistert, daß er einen Anfall bekommt! Ihretwegen! Hören Sie nur!«
    Jefim Aronowitsch stieß einen schrecklichen Schrei aus, fiel dann zurück und starrte gegen die Kirchendecke.
    »Ihr könnt sie versöhnen … versöhnen … versöhnen«, schrie der Idiot und hob seine zu Krallen gebogenen Hände. Bei jedem Wort spuckte er Schaum von sich. »Sie sagt, sie hat Hunger und nichts, worin sie sich kleiden kann. Hunger hat sie, Hunger! Und sie friert. Es ist so kalt, Leute, so kalt!« Jefim klapperte mit den Zähnen, als läge er selbst auf einem Eisblock. »Warum sorgt keiner für mich? Bin ich nicht in eurer Mitte? In eurer Mitte? Mitte?«
    »Albina Igorewna spricht durch ihn!« verkündete Tigran ergriffen. »Da hört ihr es! Sie wollten es nie glauben … Albina beklagt sich über den Mangel an Aufmerksamkeit! Oh, ich habe es die ganzen Jahre geahnt! Seit einhundertfünfzig Jahren ist sie einsam …«
    »Aber das ist doch Blödsinn«, sagte Tassburg leise. »Jefim ist krank, und was er sagt, ist dummes Zeug …«
    »Sie werden es nie begreifen, Michail Sofronowitsch! Ihr modernen Menschen mit eurem überzüchteten Verstand! Das Jenseits ist immer um uns, aber ihr leugnet es! Da, hören Sie …«
    »Ich töte euch!« rief Jefim und krümmte sich zusammen. Seine Stimme wurde immer heiserer und unverständlicher. »Ihr habt mich allein gelassen. Wie kann ich Ruhe – Ruhe finden … Ich muß euch töten, damit ihr mich nicht vergeßt. Hört mich … hört ihr mich … hört ihr …« Jefims Stimme brach, nur ein Wimmern blieb übrig. Schließlich streckte er sich aus und fiel in eine todesähnliche Ohnmacht.
    Nun erst griffen die drei Bauern zu, zerrten den Idioten an den Beinen weg, schleiften ihn in eine Ecke der Kirche und ließen ihn dort liegen wie einen Haufen dreckiger Lumpen.
    »Das war ein Erlebnis, liebe Brüder und Schwestern!« sagte Tigran mit tiefer, wohltönender Stimme. »Ihr habt alles gehört. Zum erstenmal wissen wir jetzt, warum Albina Igorewna keine Ruhe findet. Lasset uns für sie beten …«
    Um Tassburg kümmerte sich von da an keiner mehr. Er winkte seinem Vorarbeiter, klemmte sich den Aluminiumtopf mit dem Brei unter den Arm und verließ die Kirche. Als er die Tür zuwarf, begann Ostap, der Tenor, wieder zu singen.
    »Und du Rindvieh machst auch noch den ganzen Zauber mit«, sagte Tassburg laut, »wenn ich das im Camp erzähle …«
    »Ich bin ein aufgeklärter Kommunist, Genosse Ingenieur«, antwortete der Vorarbeiter und trottete neben Tassburg her zum Dorfausgang, wo die Kolonne auf den Einsatz in der Taiga wartete. »Ich weiß, daß Gott ein kapitalistisches Hirngespinst ist – aber bedenken Sie, Genosse, wir hatten in unserer Familie eine Tante, die siebenundneunzig Jahre alt war und wöchentlich einmal hinfiel wie dieser Idiot in der Kirche. Sie merkte es immer vorher und sagte dann: ›Ihr Lieben, morgen um neun in der Frühe geschieht's!‹ Dann kamen alle zusammen, alle Nachbarn, und standen um sie herum, bis sie hinfiel. Und dann fragten alle die Tante nach der Zukunft, und sie gab Auskunft! Genosse Ingenieur, man konnte darauf bauen, es stimmte immer! Mir selber hat sie gesagt – da war ich elf Jahre alt –, daß ich einmal Vorarbeiter werden würde! Na, und was bin ich? Vorarbeiter! Ist das kein Beweis, Genosse?«
    Tassburg seufzte, nickte und war froh, daß es an die Arbeit ging. Die Gebietskarte auf den Knien, fuhr er hinaus zu den Stellen, wo man im Geologischen Zentrum Erdgasvorkommen errechnet hatte. Er bezeichnete ein Gebiet mitten im Wald, wo gebohrt werden sollte, und dann begann die Arbeit des Rodens. Bäume wurden gefällt, dicke Wurzelstöcke aus dem Boden gesprengt, der Bohrplatz wurde planiert.
    Tassburg hatte ein Zelt aufgeschlagen, einen großen Klapptisch aufgestellt und führte das Berichtsbuch weiter: »Beginn der neuen Bohrung 9.45 Uhr. Planquadrat 14-16. Rodung der Arbeitsfläche.«
    Dann setzte er sich hin und rechnete im stillen nach, wie

Weitere Kostenlose Bücher