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Natalia, ein Mädchen aus der Taiga

Natalia, ein Mädchen aus der Taiga

Titel: Natalia, ein Mädchen aus der Taiga Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Emaillebecher.
    »Ich habe sie gegen Morgen gepflückt«, sagte Natalia, als Michail den Becher vom Tisch nahm und die Blüten bewunderte. »Es heißt, Blumen soll man im Morgenrot pflücken, dann sind sie besonders schön …«
    »Das ist wahr!« sagte Michail und stellte die Blumen auf den Tisch zurück. »Natalia …«
    »Du mußt dich beeilen, Michail. Draußen warten sie schon auf dich. Du darfst deine Arbeit nicht versäumen.«
    Er ging zum Fenster und blickte hinaus. Auf Anastasias Bank saßen wieder sein Vorarbeiter Grigori und die Witwe Morosowskaja. Der Pope Tigran rannte vor dem Haus hin und her, die Hände auf dem Rücken, und schnupperte. Ihm folgte wie ein Hündchen der kleine, vertrocknete Gasisulin.
    »Ich gehe kurz hinaus!« sagte Tassburg. »Sie werden vor Staunen stumm sein, paß einmal auf!«
    Er tauchte seine Hände in eine kleine Schüssel, die er in der Nacht schon mit einer rötlichen Flüssigkeit gefüllt hatte. Es war eine Verdünnung aus roter Kreide. Als er die Hände herauszog, sahen sie aus, als habe er sie in Blut gebadet.
    »Schrecklich!« sagte Natalia leise und zog die schmalen Schultern hoch. »Michail, mit so etwas spielt man nicht! Es könnte einmal wahr werden!«
    »Bist du abergläubisch?«
    »Wir alle sind es, Michail. Die Taiga ist voller Geheimnisse. Wie sollen die Menschen, die hier leben, nicht abergläubisch werden?«
    Es ist etwas Wahres daran, dachte Tassburg. Dieses unermeßliche Land begreift man nur, wenn man noch an Wunder glauben kann.
    Tigran Rassulowitsch blieb stehen, und der kleine Sargmacher prallte fast gegen seinen Rücken. »Ha! Es stimmt!« dröhnte der Baß des Popen. »Es ist unverkennbar! Ich rieche es genau! Das sind frische Blinis! Aus dem Kamin duftet es nach Blinis!«
    »Das darf nicht sein!« jammerte der kleine Gasisulin und rang seine dürren Hände. »Ein zerrissener Toter kann keine Blinis backen. Oder bedeutet das, Väterchen, daß er abermals eine Nacht überlebt hat?«
    »Der Geruch deutet tatsächlich darauf hin …«
    »Welch ein Jammer! Welch ein Unglück! Endlich hätte ich einen schönen Sarg liefern können! Wie kann man solch einen Geisterzauber überleben? Väterchen, kann ein Mensch, dessen Gliedmaßen durch den Kamin davongeflogen sind, noch Blinis backen? Wir haben es doch alle gesehen: Hui, durch den Schornstein kam ein Arm …«
    »Vielleicht eine Sinnestäuschung, Vitali Jakowlewitsch!« schrie Tigran. »Das ist eine Spezialität des Satans!« Er hob wieder den Kopf und blähte die Nasenflügel. »Es bleibt dabei: wirklich frische Blinis!«
    »Ich bin ruiniert!« stammelte Gasisulin. »Ich habe im Morgengrauen schon vier Bretter gehobelt! Wer nimmt mir den Sarg jetzt ab? In Satowka will ja keiner sterben. Die Alten weigern sich, und wenn ich zu ihnen komme, um nachzusehen, spucken sie mich an und werfen mich hinaus.« Dann fragte er ruhiger: »Kann denn der Teufel Blinis backen?«
    »Er kann alles, aber nicht morgens um halb neun …« Tigran schwieg abrupt, denn die Tür des Spukhauses hatte sich geöffnet. Tassburg trat hinaus in die Morgensonne.
    Gasisulin stöhnte laut und bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen. Der Genosse lebte! Wieder keine Leiche! Es gab auch kein Grab! Er war wieder arbeitslos!
    »Mein Sohn!« schrie Tigran zu Tassburg hinüber. »Mein geliebter Sohn! Sie leben! Ein Wunder! Ein echtes Wunder! Wie haben Sie die Hölle bezwungen?«
    »Welche Hölle?« Tassburg kam langsam näher. »Ich habe herrlich geschlafen …«
    »Was haben Sie …?« fragte Tigran fassungslos.
    »Geschlafen. Nur als ich heute morgen aufwachte, waren meine Hände wieder rot.« Er hielt seine Handflächen hin, und Tigran schlug sofort ein Kreuz. Gasisulin erstarrte, als sei Tassburg selbst der Satan. »Ich habe das Zeug nicht abgewaschen, um es Ihnen zu zeigen.«
    »Und sonst?« fragte Tigran.
    »Sonst nichts. War denn etwas los?«
    »Er fragt, ob etwas los war! Mein Sohn, es krachte und zischte. Flammen schlugen aus dem Haus, Teile von Ihnen flogen durch den Schornstein davon, das ganze Dorf hat es gesehen, und Sie … Sie …« Der Atem versagte dem Popen, und er stützte sich auf die Schulter des armen Gasisulin, der beinahe zusammenbrach.
    »Ich habe nichts gehört, Tigran Rassulowitsch«, sagte Tassburg mit erstaunter Stimme. »Feuer? In meinem Haus?«
    »Das Dach hob sich!« schrie Anastasia. »Die Wände blähten sich!«
    »Ich habe nichts gemerkt. Ich habe tief geschlafen, ausgesprochen friedlich.«
    »Das ist der Beweis!«

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