Natalia, ein Mädchen aus der Taiga
Verwandten aufstöbern?«
»Ist das deine ganze Sorge?« rief Tigran aufgebracht. »Wir alle werden sammeln für den Sarg. Bist du nun zufrieden, Vitali?«
»Nein. Da ist noch ein Problem. Gut, der Genosse ist tot. Aber wer holt ihn oder das, was von ihm übriggeblieben ist, aus dem Haus?«
»Das ist Sache des Sargmachers!« schrie Ostap aus der Menge. »Nimm eine Hostie in den Mund und geh ins Haus!«
»Wie kann man mir das zumuten?« schrie Vitali zurück. »Ich bin ein ehrlicher Handwerker und liefere glattgehobelte Bretter, an denen sich kein Toter einen Splitter holen kann … aber für die Mächte der Hölle ist allein Väterchen Tigran zuständig!«
»Halt den Mund!« Tigran Rassulowitsch legte seine breite Hand auf Vitalis Kopf. Der Kleine brach fast in die Knie. »Die Überlieferung sagt, daß jedesmal die Toten von selbst vor das Haus gelangten.«
»Zu Fuß?« stammelte der erbleichende Gasisulin.
»Was weiß ich! Morgens lagen sie vor der Tür, und keiner hat je erfahren, wie das möglich war! Sie lagen einfach da! Also fasse dich in Geduld!«
Vitali duckte sich, um unter Tigrans Hand wegzukommen. »Ihr seht, Freunde, es ist ein großes Problem …«
Was blieb noch zu tun? Eigentlich nichts. Man konnte nur bis zum nächsten Morgen warten. Allmählich löste sich die Versammlung auf, alle kehrten in ihre Häuser zurück. Zuletzt standen nur noch Tigran und Jefim vor dem Haus und belauerten sich wie zwei Boxer. Anastasia lag wieder in ihrem Bett, die Decke über den Kopf gezogen, und wünschte sich, daß beim nächsten Herbstgewitter ein gewaltiger Blitz das verdammte Haus vernichten möge. Aber auch Blitze schienen hier machtlos zu sein. In den vergangenen 150 Jahren hatte es an den unmöglichsten Stellen eingeschlagen und gebrannt – nur nicht gegenüber im ›Leeren Haus‹.
»Du fährst mich in deinem Karren wieder zur Kirche, du Schurke!« befahl Tigran dem Idioten.
»Väterchen, mir wanken die Knie.«
»Ich sehe deinen Blick, wie er begehrlich auf den Geschenken ruht! Hierher, du Halunke! An die Deichsel! Und du bleibst heute nacht bei mir im Haus!«
»Väterchen, wir hatten uns doch geeinigt …«
»Da gab es noch keine Geistererscheinung! Los! Zur Kirche!«
Tigran setzte sich wieder in den Handwagen, umklammerte das schwere Balkenkreuz, und Jefim nahm gehorsam die Deichsel und zog den Popen langsam über die holprige Straße zurück zur Kirche.
Auf halbem Weg blieb er stehen, wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß aus dem Gesicht und wandte sich zu Tigran um. »Überlege, Väterchen«, sagte er keuchend, »daß alles anders geworden ist. Du hast einen Bannkreis um das Haus gelegt … der böse Geist kann dadurch nicht mehr an die Geschenke heran! Sollen die schönen Sachen alle verkommen?«
»Das überlege ich mir auch gerade, Jefim Aronowitsch«, antwortete der Pope. »Etwas wissentlich verkommen zu lassen, ist eine Sünde.«
»Ich möchte keine Sünde begehen, Väterchen …«
»Du bist ein braver Sohn«, sagte Tigran und umklammerte zum besseren Halt das Kreuz auch noch mit den Beinen. »Fahr weiter.«
Sie lagen noch immer eng umschlungen auf den Dielen hinter den umgekippten Stühlen, als das Feuerwerk erloschen war. Der Qualm zog in dichten Schwaden durch die Räume und sammelte sich über dem Herd, wo er dann durch den breiten Kamin abzog. Natalia hatte ihren Kopf fest an Tassburgs Schulter gepreßt und hielt die Augen geschlossen. Sie zitterte immer noch.
Vorsichtig löste sich Tassburg aus ihrer Umarmung, schob die Hand unter ihr Kinn und hob ihren Kopf. Er küßte sie auf den Mund, dann auf die Augen und tastete mit den Lippen ihr ganzes Gesicht ab. Eine unsagbare Zärtlichkeit war in ihm, von der er bisher nie gewußt hatte, daß er dazu fähig war.
Liebe? Was war Liebe bisher für ihn gewesen? Der Rausch des Besitzens, dem immer viel zu schnell die Ernüchterung folgte. Er hatte viele Frauen geküßt, und sie hatten ihm immer wieder bestätigt, daß er ein herrlicher Liebhaber sein konnte. Aber das war es ja – er nahm die Liebe hin wie Essen und Trinken, er genoß sie wie ein Glas Krimsekt oder eine Schale eisgekühlten Kaviars vom Kaspischen Meer; und wenn er satt von allem war, sehnte er sich nach Alleinsein und empfand selbst das begehrende Flüstern seiner jeweiligen Gefährtin als störend, manchmal sogar als widerwärtig …
»Wir leben, Natalia«, sagte er leise und küßte sie wieder. »Es ist alles vorbei. Wir sind sicher wie in Gottes Hand …«
Sie
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