Natalia, ein Mädchen aus der Taiga
schlug die Augen auf, sah ihn an und preßte dann die Fäuste gegen seine Brust, bis er sie losließ. Dann sprang sie auf und setzte sich auf das Bett. Unter der Decke holte sie ihr langes Messer hervor und legte es über ihre Knie.
Tassburg erhob sich und machte zwei Schritte auf sie zu, aber sofort hielt ihm Natalia das Messer entgegen. »Bleib stehen, Michail!« sagte sie gefährlich klar.
»Du hast mich eben geküßt«, sagte er heiser, »und du hast mich zuerst geküßt!«
»Ich hatte Angst!«
»Du hast gesagt, daß du mich liebst …«
»Aus Angst! Nur aus Angst! Komm nicht näher …«
»Das ist nicht wahr! Es kam aus deiner Seele heraus. Du hattest Angst um mich, und das hat man nur, wenn man einen Menschen sehr liebt! Mehr als sich selbst, Natalia …«
»Können wir jetzt schlafen?« fragte sie nüchtern.
»Ja, aber ich dachte, wir feiern unseren Sieg …«
»Schlafen ist besser!« Sie zeigte mit dem Messer auf die Tür. »Du legst dich wieder auf die Bank?«
»Natürlich.« Er ging zur Tür und blickte in den großen Raum. Der letzte Rauch zog ab, aber es roch noch stark nach verbranntem Pulver. »Wenn du willst, daß wir jetzt schlafen …« Er hob resignierend die Arme. Natalia sah ihm zu, wie er zu der großen Kiste ging, eine Decke herausholte und sie sich unter den Arm klemmte. »Du kannst fortgehen!« sagte er und warf die Decke im Nebenzimmer auf die Bank. »Morgen, übermorgen, in der Nacht, wann du willst! Was du mitnehmen willst, nimm dir! Ich habe genug in den Koffern und Kisten, was du gebrauchen kannst. Such dir alles aus.« Er blieb in der Tür stehen, die Klinke in der Hand. »Willst du heute nacht noch weiter?«
»Ich weiß es nicht, Michail.«
»Es wäre ein günstiger Zeitpunkt. Niemand wird heute nacht noch um das Haus schleichen und es beobachten. Bis es hell wird, hast du schon einige Werst hinter dir!«
»Das stimmt.« Sie legte das Messer neben sich. »Ich werde es mir überlegen. Gute Nacht, Michail.«
»Ich wünsche dir viel Glück, Natalia.« Er schloß die Tür, riß sie aber sofort wieder auf, weil Natalia ihn gerufen hatte.
»Bist du mir böse, weil ich nicht deine Geliebte werde?« fragte sie.
»Das solltest du nie sein! Ich liebe dich … Das ist etwas anderes!«
»Und was kommt dabei heraus? Ein paar Tage, ein paar Wochen. Man amüsiert sich mit einem kleinen dummen Taigamädchen! Und dann zieht der Herr Diplomingenieur weiter auf der Suche nach Erdgas, immer weiter weg von dem Mädchen, zu dem er einmal gesagt hat: ›Ich liebe dich!‹ Was bleibt zurück? Eine Erinnerung! Soll das ein Leben sein?«
»Aber du liebst mich doch auch!«
»Ich will einmal eine Frau sein, verstehst du?« sagte sie. Sie legte sich auf das Bett zurück und zog die Knie an. »Eine ganz altmodische Frau, die einen Mann hat, den sie liebt, und ich will Kinder haben von diesem Mann, und Tag und Nacht arbeiten für diesen Mann und diese Kinder, wenn es sein muß. Und ich will einen Garten haben, der mir gehört, und darüber ein Stück Himmel, in den ich blicken kann. Und ich will jeden Tag wissen und spüren: Das Leben ist schön, weil es den Mann gibt, die Kinder, den Garten, – den Himmel. So soll das sein! Aber du, Michail, wirst immer weit weg sein, weit weg von mir …«
»Du hast gestern noch gesagt: Eine Frau, die liebt, zieht überall mit hin; in die Sümpfe, in das ewige Eis, in die Urwälder der Taiga, an die wilden Flüsse, in die grenzenlose Steppe – denn wo die Liebe ist, ist auch die Heimat. Hast du das gesagt?«
»Ja.« Sie nickte im Liegen. »Aber ich habe dich nicht damit gemeint.«
»Dann ist ja alles gesagt.« Er sah sie noch einmal an und schloß dann die Tür. Er hörte, wie sie aufstand, die schwere Kiste vor die Tür schob und dann zurück ins Bett lief.
Das kann doch nicht die Wahrheit sein, dachte Tassburg. Oder bin ich durch ihren Anblick schon ein solcher Tölpel geworden, daß ich mir Dinge einbilde, die es gar nicht gibt? Ein Blick von ihr, ein Lächeln, eine Handbewegung … Alles deute ich falsch! Bin ich ein Narr?
Er legte sich auf die Holzbank, starrte gegen die Holzdecke und fragte sich, was er tun würde, wenn Natalia wirklich noch in dieser Nacht an ihm vorbeiging, um in der Weite der Taiga zu verschwinden. War es ihm möglich, dann ruhig liegenzubleiben und den Schlafenden zu spielen, der nichts merkte? Konnte man sie in die dunkle Ungewißheit ziehen lassen, irgendwohin, wie sie sagte, einfach so ins Land hinein, in dem Glauben,
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