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Natalia, ein Mädchen aus der Taiga

Natalia, ein Mädchen aus der Taiga

Titel: Natalia, ein Mädchen aus der Taiga Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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jetzt gab er noch keinen Laut von sich, nur ein maßloses Erstaunen überzog sein Gesicht. Dann verzerrte es sich in höchster Wut; es war, als spüre er den Stich gar nicht. Er griff wieder zu, aber Natalia wich ihm aus. Blut spritzte aus Kassugais Kehle, und erst da schrie er auf und taumelte zurück zur Tür, in der verzweifelten Hoffnung, Nikolai oder der Pope oder sonstwer könne ihm noch helfen.
    Natalia flüchtete wieder in die Ofenecke und schlug die Hände vor das Gesicht. Sie hörte, wie Kassugai nach draußen gelangte, wie Jefim aufschrie, wie eine andere helle Stimme rief: »Der dritte Tote!« – und sie dachte: Wieso denn drei Tote? Wer sind die anderen? War etwa Michail Sofronowitsch doch früher zurückgekommen und hatte Kassugai ihn getötet?
    Natalia kroch noch mehr in sich zusammen, sie begann zu weinen und wünschte sich, sie sei auch gestorben.
    Kommt herein! wünschte sie sich. Seht nach! Schlagt mich tot wie einen wilden Hund! Ich wehre mich nicht, das Messer liegt mitten im Zimmer, und ich bin bereit, zu sterben. Es wäre eine Erlösung, Brüder! Wie kann ich weiterleben, wenn es Michail nicht mehr gibt? Ich liebe ihn, ja, ich liebe ihn. Er hat es nie gewußt, er ist mit seiner Sehnsucht nach mir gestorben … Ich hätte es ihm gesagt, heute oder morgen! Zum erstenmal habe ich geliebt, ich habe nie das Gefühl gekannt, auf einen Menschen zu warten, auf seinen Gang, seine Stimme, auf das Spiel seiner Hände, auf das Leuchten seiner Augen, auf das Wehen seines Haares. Versteht ihr jetzt da draußen, warum ich nicht mehr leben kann? Kommt herein, kommt in dieses verfluchte Haus und tötet mich endlich …
    Aber es kam niemand.
    Draußen schaffte man die Toten weg, Anastasia lag auf ihrem Bett und bekam kaum noch Luft vor Entsetzen, der Idiot Jefim kreischte durch das Dorf und verkündete das Grauen; und der Pope Tigran umschritt feierlich in gebührendem Abstand das verfluchte Haus und segnete es von allen Seiten, damit der Satan in Bann gehalten wurde.
    Es wurde Abend, und Natalia kauerte noch immer in ihrer Ecke. Die Anspannung und das Grauen wichen einer großen Müdigkeit. Ihr Körper war wie gelähmt, als sie sich an der Wand hochschob und einen Schritt ins Zimmer trat. Sie stützte sich auf den gemauerten Ofenrand und blickte hinüber in den Schlafraum und auf das Bett.
    Aber sie konnte es nicht erreichen. Quer durch das Zimmer lief eine breite Blutspur, und es war Natalia unmöglich, einen Schritt darüber zu tun. So blieb sie am Ofen stehen, blickte an sich hinunter und sah erst jetzt, daß auch ihre Hände mit Blut beschmiert waren. Sie schrie leise auf, schob mit den Ellenbogen den Wasserkessel über die Glut, blies in das Feuer und wartete zitternd, bis Dampf aus dem Kessel stieg. Dann tauchte sie ihre Hände in das heiße Wasser, schloß einen Augenblick die Augen und biß die Zähne aufeinander.
    Und wenn das Fleisch von den Knochen fällt, dachte sie, lösche Kassugais Blut aus, heißes Wasser! Mach mich sauber! Nicht ein einziger roter Fleck darf zurückbleiben. Ich habe einen Menschen getötet, aber ich weiß nicht, wie es geschah. Heißes Wasser, nimm das Blut von mir …
    Später saß sie auf der Eckbank, die Haut ihrer Hände war glühend rot, aber sie spürte keine Schmerzen. Im Gegenteil: eine eisige Kälte umklammerte ihren Körper, als gefriere ihr Blut bei jedem Herzschlag ein wenig mehr. Ist so das Sterben? dachte sie. Man will nicht mehr leben, und die große Kälte kommt über einen, bis man erfroren ist. Ist so der Tod durch Einsamkeit?
    Natalia wartete auf den Tod und starrte dabei das Messer im Zimmer und die Blutspur Kassugais an.
    Er hat Michail getötet, dachte sie. Und ich habe ihn getötet. Gibt es wirklich einen Gott, dann wird er gerecht sein mit mir.
    Der Sargmacher Vitali Jakowlewitsch Gasisulin kam in Bedrängnis, zum erstenmal in seinem Leben. Er hatte ja keine Särge auf Vorrat, denn die Gesundheit der Leute von Satowka war schon kriminell, aber jetzt lagen drei Tote da und mußten ordnungsgemäß unter die Erde gebracht werden.
    Das bedeutete, daß Gasisulin drei Särge zimmern und drei Gräber ausheben mußte. Er stöhnte laut, ging in die Stolowaja, wo man die Toten aufgebahrt hatte, und maß die Körperlängen. Bei Valentina Agafonowna maß er auch noch den Umfang ab, denn sie paßte in keinen normalen flachen Sarg.
    »Ich bin ein geschlagener Mann!« sagte er zu Petrow, der mißmutig in seinem Parteibüro hockte und nicht wußte, ob er den Vorfall

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