Natalia, ein Mädchen aus der Taiga
setzte aus, als sie Kassugai leibhaftig vor dem Haus stehen sah, zusammen mit seinem Freund Nikolai, der in Mutorej als einer gefürchtet war, der keinen Weiberrock zwischen fünfzehn und vierzig Jahren an sich vorbeigehen ließ, ohne zuzugreifen. Wer wagte es schon, sich zu wehren? Nikolai war der Freund des mächtigen Kassugai, und außerdem kontrollierte er noch die Arbeits- und Solleistungen der Sowchose – ein Posten, auf dem man Menschen schinden kann, bis sie zum elenden Wurm werden, der nur noch zittert.
Zwar hatte es bei Nikolai – nicht bei Kassugai, denn er stand zu hoch in der Parteihierarchie – gelegentlich Racheakte wütender Ehemänner gegeben, deren Frauen mit Gras im Haar aus den Feldern heimkamen. So lauerte man einmal Nikolai auf, zog ihm einen Sack über den Kopf und prügelte ihn durch; ein anderes Mal entging er mit knapper Not einem Ersäufen im Fluß, weil sich die Gewichte an seinen Beinen vorzeitig lösten; aber der Antrag in einer geheimen Männerversammlung am Rande von Mutorej, Nikolai gewaltsam zu kastrieren, kam nicht zur Durchführung. Immerhin hatte Nikolai zu büßen für seine Leidenschaft, aber das hinderte ihn nicht daran, weiter in offene Blusen zu fassen …
Nun waren sie hier. Natalia stand am Fenster, das große Messer in der Hand, und starrte Kassugai an, der mit Tigran verhandelte. Dann sah sie ihn lachen, sein typisches, höhnisches Lachen, sah, wie er sich abwandte und auf das Haus zuging.
Er kam! Wie konnte man auch einen Kassugai durch Spukgeschichten abhalten wollen! Die reizten ihn nur noch mehr, das Haus zu betreten.
Natalia lief zurück zu dem gemauerten Ofen, duckte sich in die Ecke zwischen Herd und Holzstapel, und umklammerte ihr Messer. Jeder Muskel ihres Körpers war angespannt, um Kassugai anzuspringen, wenn er ins Zimmer trat.
Die Tür klappte zu. Natalia hörte Kassugais kräftigen Schritt, hörte auch, wie er den Schrank im Vorraum aufriß, dann weiter in das kleine Nebenzimmer ging, das leer war bis auf die hölzerne Bettstatt. Kassugais Schritte hallten laut in der Stille des Hauses.
Jetzt waren keine Schritte mehr zu hören, er schien das angelehnte Fenster nachdenklich zu betrachten. Durch dieses Fenster war Natalia in das ›Leere Haus‹ geklettert, und damals war es ihr vorgekommen wie eine Pforte zum Paradies. Ein Dach über dem Kopf nach den Entbehrungen in der Taiga! Ein Strohlager! Ein Herd, auf dem sie zwar kein Feuer machen konnte, weil man den Rauch gesehen hätte, aber der einem das Gefühl gab: Du bist unter Menschen! Wenn die Nacht kommt, kannst du ruhig schlafen. Der Wald ist herrlich, ich liebe den Wald, aber in der Nacht wird er unheimlich. Ihr Menschen wißt nicht, wie aus einem Haus, einer Selbstverständlichkeit, göttliche Gnade werden kann …
Da – die Tür … die Tür zum Wohnraum! Sie schwang auf, schlug gegen die Wand, mit einem Tritt geöffnet. Kassugai kam herein, die Hände in den Hosentaschen. Sein Gesicht war gespannt. Mit einem schnellen Blick erfaßte er den ganzen Raum. Er sah Natalia in der Ecke neben dem Ofen kauern, und da lächelte er und kam langsam näher.
Er sagte kein Wort. Was gab es auch noch zu reden? Er hatte sie gefunden, sein Eigentum, von ihrem Vater für einen besseren Arbeitsplatz erworben.
Das war ein rechtmäßiger Handel, nicht gerade christlich, aber Christus hatte man abgeschafft, und Sibirien ist ein besonderes Land. Man kann es nicht mit europäischen Maßstäben messen. Man kauft ein Pferd mit einem Handschlag – man kann auch eine Tochter so kaufen, wenn der Vater einschlägt. Und genau das hatte Natalias Vater, der Traktorist der Sowchose, der gern mehr sein wollte als nur ein Traktorfahrer, mit Kassugai getan.
Natalia hatte das lange Messer in ihrem Schoß verborgen, Kassugai konnte es nicht sehen. Für ihn erweckte sie den Eindruck, als kröche sie vor Angst in sich zusammen.
Langsam kam er auf Natalia zu. Er lachte leise – der einzige Ton, den er bisher von sich gegeben hatte. In seinem Blick lag ein so elementares Begehren, daß es Natalia kalt über den Rücken lief. Seine Augen glühten, die Finger waren gekrümmt wie Adlerklauen.
Was dann geschah, und wie es geschah, wußte sie nicht mehr.
Irgendwie mußte sie aus dem Kauern heraus auf Kassugai losgesprungen sein, lautlos, einer Riesenkatze gleich. Das Messer zuckte hoch, und noch bevor Natalia mit Kassugai zusammenprallte, traf ihn die stählerne Klinge in den Hals.
Kassugai schwankte, fiel aber noch nicht. Auch
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