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Natalia, ein Mädchen aus der Taiga

Natalia, ein Mädchen aus der Taiga

Titel: Natalia, ein Mädchen aus der Taiga Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Blutdruckmessen, Abhören des Thorax, Pulsfühlen, Abklopfen des Brustkorbes – das war noch europäisch und gehörte zum Repertoire jedes Arztes, wenn er Zeit braucht, um nachzudenken. Dazu stellte er ab und zu ein paar Fangfragen, aus denen er zu hören hoffte, wo der Grund der Krankheit lag.
    Aber bei Tassburg war alles umsonst. Sein Blutdruck war normal, sein Herz schlug kräftig, die Lungengeräusche gaben keinen Anlaß, an eine Lungenentzündung oder gar an Tbc zu denken, Mittel- und Unterbauch waren weich, die Leber nicht verhärtet, die Blinddarmreflexe normal, auch die Verdauung klappte – auf Befragen – und gleichfalls der Urin, nicht flockig oder sonst getrübt … Es war zum Verzweifeln!
    Aber der Mann war krank, man sah es doch deutlich! Er konnte kaum noch gehen; eine rätselhafte Schwäche lähmte seinen Körper, höhlte ihn aus, machte ihn zu Gummi. Seine Muskeln, die doch sonst aus Stahl sein mußten, waren schlaff, seine Knochen stützten den Menschen nicht mehr. Und das bei einem normalen Blutdruck und geradezu provozierend gutem Puls!
    Dr. Plachunin verharrte mit seinem Stethoskop an Tassburgs Brustkorb und dachte nach. Bloß keine Unsicherheit zeigen, dachte er. Dieser Halunke von einem Popen beobachtet mich ganz genau! Ich muß so tun, als hätte ich eine unerhört seltene, schwerwiegende Krankheit entdeckt. Eine Krankheit, die auf der ganzen Welt nur zehn Ärzte kennen; und einer davon heißt Dr. Ostap Germanowitsch Plachunin! In Europa ist diese Krankheit schon lange Mode – man kann dafür sogar Privatkliniken gründen und ein Schweinegeld verdienen!
    »Mein Freund«, sagte er deshalb bedächtig, die Oliven des Stethoskops noch immer in den Ohren, »mein lieber Michail Sofronowitsch, Ihr Fall ist ein ausgesprochen akademischer …«
    »Amen!« warf Tigran ergriffen ein.
    »O Gott!« sagte Anastasia erschrocken, und Plachunin war sehr zufrieden. Akademisch bedeutete im Grunde gar nichts, aber es hörte sich schwerwiegend an.
    Tassburg lag auf dem Rücken, atmete verhalten und ließ es zu, daß ihm die fürsorgliche Anastasia einen mit warmem Wasser getränkten Lappen auf die Brust legte. Das hatte bei ihrem Seligen immer geholfen, mal kalt, mal warm – immer abwechselnd. Nach einigen Stunden wurde er dann immer recht munter …
    »Lassen Sie den Unsinn!« knurrte Dr. Plachunin die rührige Witwe an. »Hier helfen nur Medikamente, wie sie in den großen Kliniken von Moskau und Leningrad verabreicht werden!«
    »Und die haben Sie, Doktor?« fragte Tigran ungläubig. »In Batkit?«
    »Wir sind ein fortschrittlicher Staat, du Ewigkeitsbetrüger!« schrie Plachunin. »Auch in Batkit gibt es gute Medikamente. Überall in Rußland! Ganz Rußland ist gleichmäßig versorgt! Begreifst du das?«
    »Man muß es wohl«, meinte Tigran zweifelnd. »An was leidet der Genosse Ingenieur?«
    Diese Frage regte Dr. Plachunin von neuem auf, vor allem, weil er vorläufig noch keine Antwort darauf wußte. »Geht jetzt alle fort!« rief er. »Hier folgt jetzt eine schwere Untersuchung! Auch du, heiliger Mann! Wo gibt es das, daß die Schweigepflicht des Arztes so mißbraucht – das Geheimnis zwischen Arzt und Patient auf diese Art belauscht wird? Also – weg! Auch du, Anastasia! Wir müssen jetzt völlig allein sein, der Kranke und ich.«
    Sie gingen gehorsam auf die Straße und warteten vor dem Zaun. Gasisulin schwitzte vor Aufregung. »Ob es doch noch klappt?« flüsterte er in regelmäßigen Abständen.
    »Er sieht jedenfalls aus wie einer, den man bald beerdigen kann!« stellte Jefim fest.
    »O ihr Hurensöhne!« sagte Tigran dumpf. »Nur an den Profit denkt ihr! Daß da ein armer, leidender Mensch liegt, das Gefühl geht euch völlig ab! Ist das die Frucht meiner zwanzigjährigen Seelsorgertätigkeit?«
    Unterdessen hatte sich Dr. Plachunin neben seinen Patienten auf die Bank gesetzt und beide Hände auf dessen muskulösen Brustkorb gelegt. Es waren kleine, aber sehr schöne, beinahe zierliche Hände, zwar alt und mit Pigmentflecken übersät, aber wie von einem Bildhauer in graubraunem Stein gemeißelt.
    »Hatten Sie schon mal Malaria?« fragte der Doktor sanft.
    »Nein, Doktor«, antwortete Michail unterdrückt.
    »Gelbfieber?«
    »Nein.«
    »Skorbut?«
    »Auch nicht.«
    »Die Schlafkrankheit?«
    »Nur im Innendienst – im Büro …« Tassburg grinste verhalten.
    Dr. Plachunin blieb ernst, aber seine Finger trommelten auf Tassburgs Brust. »Wie war's mit Tripper?«
    »Aber, Genosse Doktor …«
    »Sie

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