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Natalia, ein Mädchen aus der Taiga

Natalia, ein Mädchen aus der Taiga

Titel: Natalia, ein Mädchen aus der Taiga Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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jetzt auch noch der Sargmacher Gasisulin zu der Gruppe stieß und fragte, höflich wie es seine Art war: »Kann man schon einen Sarg anfertigen?«, wurde die Beklemmung immer stärker. Das Benzin aus Dr. Plachunins Auto hatte er vorher in seiner Werkstatt versteckt.
    Hinter dem Fenster sahen sich Natalia und Tassburg an. Sie hielt ihn von hinten umschlungen und küßte seinen Nacken – was jedoch kein Ausdruck anschmiegsamer Zärtlichkeit war, sondern zitternde Angst.
    »Wird er hereinkommen?« flüsterte sie.
    »Ich weiß es nicht. Und wenn … er ist ein kleiner Mann!«
    »Aber er hat Augen! Wirst du ihn … töten?«
    »Er ist Arzt, Natalia. Und wir brauchen einen Arzt. Du bist noch nicht gesund. Irgendwie muß ich von ihm Medikamente bekommen. Er zögert, siehst du? Tigran hat ihm alles über das Haus erzählt. Ich habe dir immer gesagt: Hier sind wir sicher! Hier ist unser Paradies …«
    Dr. Plachunins Donnerstimme unterbrach ihn, und Michail überlegte. »Ich gehe hinaus …«, sagte er schließlich.
    »Und dann? Michail, tu es nicht!«
    »Soll er hereinkommen?«
    »Melde dich einfach nicht …«
    »Dann denken sie, ich sei schon tot. Gasisulin steht schon da und wartet auf einen Sargauftrag. Ich muß hinaus …«
    Er zog Natalia an sich und vergrub seine Finger in ihrem aufgelösten Haar. Dann küßte er sie, und sie ließ es geschehen, schmiegte sich in seinen Arm und atmete heftig.
    »Ich liebe dich«, sagte er leise. »Mein Gott, wie liebe ich dich! Es ist eine Liebe, die unerklärlich ist und unerklärlich bleiben wird. So eine Liebe fällt plötzlich vom Himmel, sie hüllt uns ein wie in einen Sternenmantel! Natjenka …«
    »Mischa!«
    Sie blieben eine Weile engumschlungen stehen und spürten, jeder voller Glück, die Nähe des anderen. Sie waren ein Wesen, sie gehörten zusammen, das wußten sie nun ganz genau.
    »Geh jetzt hinaus!« sagte Natalia schließlich atemlos. »Und wenn sie dir etwas tun, erschieße ich sie alle von hier aus, durch das Fenster!«
    Er nickte, küßte sie noch einmal auf ihre großen, ihn gläubig und liebevoll anblickenden Augen und ging dann entschlossen vor das Haus.
    Als er die Tür aufstieß, ließ der Idiot Jefim einen hellen Schrei ertönen, und der Sargmacher sagte traurig: »Das mit dem neuen Sarg wird wohl nichts geben, Freunde.«
    Tassburg hatte seine Rolle gut einstudiert. Er wirkte wie sein eigener Geist, bleich und schwankend.
    Tigran schlug auch sofort mit dramatischer Gebärde ein Kreuz, Anastasia, die fromme Witwe mit den guten Blinis und der dicken Kascha, die auf den Popen stets so anregend wirkten, bedeckte das Gesicht mit ihrer Schürze. Jefim schnaufte durch die Nase, und Gasisulin, mit dem Auge des Fachmannes für zukünftige Kunden, revidierte seine Resignation und glaubte nun doch noch an einen neuen Auftrag. Der Dorfsowjet hatte sich entfernt. Er organisierte das Schlangestehen für die Untersuchung, und man hörte sein Brüllen bis hierher. Er trennte die Familien: die Männer zur Untersuchung in den Parteifestsaal, die Frauen in die Banja. Es gab zwar viel Gezeter, aber auch in Sibirien ist es nicht üblich, Männer und Frauen in einem Raum und zur gleichen Zeit zu untersuchen!
    Dr. Plachunin betrachtete seinen Patienten, der langsam näher schwankte, mit dem vollen Interesse des Arztes, der helfen soll und schon im voraus eine Diagnose stellt. Man nennt das auch medizinische Intuition, nur große Geister sind dazu berufen.
    »Keine Überanstrengung, mein Freund!« rief der Arzt, als Tassburg gefährlich wackelte. »Langsam, ganz langsam! Lassen Sie sich Zeit! Wir legen Sie gleich hier auf diese Bank. Sie Starrkopf! Warum bleiben Sie auch in diesem Haus? Tigran Rassulowitsch, packen Sie doch zu! Halten Sie den Arm fest!«
    Man stützte Tassburg, führte ihn zu Anastasias Gartenbank und bat ihn, sich lang auszustrecken. Dr. Plachunin hob als erstes Tassburgs Augenlider und starrte in die Pupillen. Dann packte er seinen Arztkoffer aus, holte das Membranstethoskop heraus und den Blutdruckmesser; dann zog Tigran Tassburg das Hemd über den Kopf, und Dr. Plachunin wunderte sich, daß ein so muskulöser, starker Mann plötzlich so schwach werden konnte.
    Was dann begann, war die Untersuchung eines Arztes, der über fünfzig Jahre in Sibirien, an der Steinigen Tunguska, gelebt hatte und Menschen untersuchte, die einen Tritt in den Hintern – natürlich nur bildlich gesprochen – schon als Medizin ansahen, wenn er vom Arzt verabfolgt wurde.

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