Natalia, ein Mädchen aus der Taiga
zurück, packte seine Instrumente wieder in seinen Koffer und verließ Anastasias Garten.
Auf der Straße erwartete ihn inzwischen das halbe Dorf.
»Wird er sterben?« rief Gasisulin mit seiner hellen Stimme.
»Schweig, du Ratte«, donnerte Tigran Rassulowitsch. »Steht es schlimm um ihn, Doktor?«
»Er fällt für mindestens vier Wochen aus!« antwortete Dr. Plachunin.
»Und dann?« rief Petrow, der Dorfsowjet. Er war ärgerlich, denn seine Organisation war durcheinandergeraten. Viele standen jetzt vor Anastasias Haus, die eigentlich in der Stolawaja oder in der Banja warten sollten. »Was hat er denn?«
»Ein verschlepptes Fieber. Das entkräftet ungeheuer.«
»Ein natürlicher Vorgang also? Nichts Mystisches?« wollte Tigran wissen.
»Nein. Die Gräfin Albina ist diesmal nicht beteiligt.« Dr. Plachunin schaute sich um. So klein er war, so voller Ehrfurcht starrte man ihn an. »Ich werde morgen nach ihm sehen.«
»Im Haus?« kreischte Jefim, der Idiot.
»Im Haus!«
»Also doch einen Sarg!« sagte Gasisulin zufrieden. »Genosse Doktor, ich danke Ihnen. Bei Ihnen genügt eine Kinderkiste!«
Dr. Plachunin antwortete nicht, aber da auch Gasisulin zur Reihenuntersuchung kommen würde, nahm er sich vor, dem Sargmacher eine Darmspülung zu verpassen, an die dieser noch lange denken würde …
Genossen, ärgert die Ärzte nicht! Ein Priester kann nur die Hölle versprechen, ein Arzt hat sie in der Hand!
VIII
Es roch schon nach Winter.
Die Bäume der Taiga waren zwar noch rot und golden, aber von Norden und Osten her wehte es schon kälter.
Als Tassburg von Dr. Plachunin zurückkam, war Natalia ihm hinter der Tür um den Hals gefallen und hatte vor Freude geweint.
»Mach mit mir, was du willst«, sagte sie später, als Tassburg ihren Oberarm abband, um die Vene zu stauen, und die Nadel auf die Kalziumspritze setzte. »Und wenn ich daran sterbe – du hast es getan. Und alles, was du tust, ist für mich das Glück.«
Ganz langsam, ganz vorsichtig injizierte Tassburg das Kalzium, nachdem er sich durch Blutansaugen überzeugt hatte, daß er die Vene genau getroffen hatte. Er hatte nicht einen Augenblick gezögert, zuzustechen, obwohl ihm die Angst den Hals zuschnürte. Die erste intravenöse Spritze seines Lebens …
Dr. Plachunin hatte ihm noch einmal alles genau erklärt. »Wird dir heiß, Liebling?« fragte Michail, während er das Kalzium in die Blutbahn drückte.
»Ein wenig, aber nicht schlimm …«
»Sag mir sofort, wenn eine Hitzewelle kommt …«
Sie nickte, schloß die Augen und hielt ganz still. Dann war die Spritze leer, es war alles gelungen. Mit einem Ruck zog Tassburg die Nadel heraus und preßte einen Wattebausch auf die Einstichstelle.
»Jetzt noch die Kreislauftropfen«, sagte er. »Dann mußt du dich hinlegen und schlafen. In ein paar Tagen kannst du wieder lachen!«
Sie nickte, schluckte die Tropfen, zog sich dann im Nebenzimmer aus, schlüpfte in Tassburgs Pyjama und legte sich ins Bett. Er deckte sie zu, küßte sie auf die Stirn und wollte das Zimmer verlassen, aber sie hielt seine Hand fest.
»Bleib«, sagte sie mit kindlicher Stimme. »Bitte, bleib …«
»Du sollst jetzt schlafen, Natalia.«
»Du weißt, ich schlafe besser ein, wenn ich deine Hand halte, Mischa. Laß mir deine Hand. Ich muß fühlen, ich muß wissen, daß du bei mir bist. Laß mich nicht los, Mischa! Laß mich nie mehr los! Geh nie weg von mir …«
Es war das erstemal, daß sie es so deutlich aussprach. Er war gerührt, nickte, küßte ihre zitternden Lider und hielt ihre Hand fest wie bei einem kranken Kind, bis ihr Atem ruhiger wurde und die Medikamente wirkten. Ihre flimmernden Nerven wurden eingebettet in Ruhe und Vergessen. Sie schlief ein.
Ganz vorsichtig löste er später seine Hand aus ihren Fingern, die so zerbrechlich waren, daß er Angst hatte, sie auseinanderzubiegen, um sich aus ihrer Umklammerung zu befreien. Auf Zehenspitzen schlich er aus dem Zimmer, ließ die Tür aber offen und setzte sich neben das Herdfeuer.
Von draußen, von der Straße her, aus dem Dorf, erklang vielstimmiger Lärm.
Dr. Plachunin hatte in der Stolowaja mit seiner ›Reihenuntersuchung‹ begonnen und gab tatsächlich Seifenwasserklistiere. Die Lauge hatte Gasisulin gekocht, in Unkenntnis dessen, daß er eine Extraportion erhalten würde. Tigran, der Pope, ermunterte von der Tür des Festsaales jeden, der hereinkommen mußte, und tröstete jeden, der herauskam: bleich, manchmal grün im Gesicht, die Hände auf den
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