Natalia, ein Mädchen aus der Taiga
»Verjagen wir sie!«
»Und wie?« fragte der Doktor. »Wollen Sie in die Hände klatschen und husch-husch rufen?«
»So ähnlich!«
»Er hat den Verstand verloren!« sagte Plachunin zu Tassburg und Natalia. »Jetzt, wo keine Gebete mehr helfen, hockt er herum und macht dumme Vorschläge!«
»Die Gräfin Albina muß in Erscheinung treten!« sagte Tigran ungerührt. »Nach einhundertfünfzig Jahren zeigt sie sich zum erstenmal! Riesengroß, bleich – für einen Moment aus der Hölle entlassen! Sie tritt aus dem Haus und ruft: ›Hinweg mit euch allen!‹ – Ha, wie die lieben Genossen davonflitzen werden!«
»Er ist irre!« sagte Dr. Plachunin laut. »Tigran, geben Sie mir Ihren Arm. Ich muß Ihren Puls fühlen. Wollen Sie etwa das Gespenst spielen?«
»Nein! Natalia …«
»Unmöglich!« rief Tassburg sofort. Er saß neben Natalia dem Popen gegenüber am Tisch und hatte den Arm um ihre Schulter gelegt. Sie war müde, lehnte den Kopf an Michails Schulter und war trotz aller Komplikationen glücklich, seine Nähe zu fühlen. Vor ihr auf dem Tisch lag der Brautstrauß aus den bunten Papierrosen. Von ihrem Haar hatte sie den roten Nylonstrick genommen – es fiel jetzt wieder lang und kupfern-golden schimmernd über ihre Schultern.
»Warum ist es unmöglich?« fragte sie.
»Bist du so riesengroß?«
»Sie setzt sich auf meine Schultern, und alles, was wir an Stoff haben, nähen wir zusammen und machen ein Gewand draus, das ihr vom Hals bis zu meinen Füßen fällt! Wenn das keine große Gespenstergestalt wird …«
»Ein Monstrum!« sagte Dr. Plachunin. »Oben ein zartes Köpfchen, und unten Schuhe wie ein Kahn! Freunde, gebt dem Popen zu trinken, damit er endlich still ist! Ich sehe nur den einen Ausweg: Warten bis morgen abend!«
Es war tatsächlich die einzige Möglichkeit, die ihnen blieb. Tassburg holte noch eine weitere Flasche Wodka. Tigran Rassulowitsch schlug zwar noch manchen Ausweg vor, aber je weiter die Nacht fortschritt und je mehr Wodka er in sich hineinschüttete, um so indiskutabler wurden seine Vorschläge. Schließlich legte er sich lang auf die Bank, ohne daran zu denken, daß aus einer solchen Haltung dem braven Morosowski das Genick gebrochen worden war, faltete die Hände unter dem Bart und schlief ein.
Kaum hatte er die Augen geschlossen, schnarchte er auch schon so gewaltig, daß keine leisere Unterhaltung mehr möglich war.
»Ich liebe diesen Kerl!« sagte Dr. Plachunin und blickte auf seine uralte Uhr, die er aus der Jackentasche holte. Es war gegen sechs Uhr morgens. Nebenan hatte sich Natalia aufs Bett gerollt und schlief ebenfalls. »Er ist der größte Gauner, der je einen Priesterrock getragen hat, aber er paßt genau in diese Gegend. Rußland wäre arm, wenn es nicht solche Kerle hätte.«
Plachunin stemmte die kurzen Beine gegen die warme Ofenwand. Herrlich war es, wie nun von den Fußsohlen her die Wärme durch den ganzen Körper zog. »Wenn es aufhört zu schneien, rufen wir mit Ihrem Funkgerät den Hubschrauber herbei! Einverstanden? Ich verzichte auf den alten Wagen.«
»Aber erst muß Natalia hier offiziell auftauchen! Und wenn ich ehrlich sein soll, das mit dem Sumpffieber, das Sie bei mir erzeugen wollen, gefällt mir gar nicht.«
»Mir auch nicht! Schon rein medizinisch gehört eine Riesenportion Dummheit dazu, zu glauben, daß man bei Schnee und Frost Sumpffieber bekommt!«
»Es gibt also nur den legalen Weg, Dr. Plachunin.«
»Was nennen Sie in diesem Fall legal, Michail Sofronowitsch?«
»Ich muß nach Mutorej und mit Natalias Eltern sprechen.«
»Und so lange wollen Sie den Geisterspuk hier fortsetzen?«
»Wissen Sie etwas Besseres?«
»Ja. Ich muß zurück nach Batkit. Es muß doch möglich sein, Sie und Natalia mit nach Batkit zu nehmen.«
»Und mit welcher Begründung? Ich bin gesund, und ich gehöre zu meinen Leuten. Ich habe hier einen Auftrag zu erfüllen.«
»Also müssen Sie doch krank werden …«
»Wenn mir genügend Zeit bleibt und das Wetter mitspielt, müßte es auch anders gelingen. Es kann doch nicht ewig schneien! Nach dem Schnee kommt der starke Frost. Dann ist der Himmel blank und blau, sonnenüberstrahlt und unendlich. Der Schnee friert zu einer Decke, fest wie Asphalt. Man kann dann wieder arbeiten.«
»Als ob ich die Taiga nicht kenne!« Plachunin nickte mehrmals. »Denken Sie aber auch an das Kind? Von Woche zu Woche wächst es, und es kommt einmal der Zeitpunkt, wo Ihre Frau nicht mehr in einem Jeep oder Lastwagen über die
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