Natalia, ein Mädchen aus der Taiga
zu halten. Tigran nickte zufrieden und sang weiter. Es war ein Lied, das Plachunin nicht mehr in Erinnerung hatte, aber als der Pope es beendete und sich wegdrehte, um am Herd den Weihrauchkessel zu entzünden, da legte der Doktor los.
»Gott, nimm unsere Hände an …« Diesmal war es an Tigran, zu erschrecken. Obwohl jeder wußte, wie stark die Stimme des kleinen Arztes war – beim Singen geriet sie in Dimensionen, die niemand für möglich hielt. Dieser Gesang ließ die Wände erbeben.
»Mein Gott«, sagte Tigran Rassulowitsch fromm. »Du kannst Gras in der Wüste wachsen lassen …«
XI
Unterdessen geschah draußen vor dem Haus etwas, von dem die Menschen im Innern nichts ahnten.
Es begann damit, daß der Schneesturm aufhörte und nur noch der Schnee lautlos herniederrieselte. Davon wachte der gute Mann – Luka Serafinowitsch war übrigens sein Name –, der in dieser Nacht das ›Leere Haus‹ bewachen sollte, auf. Solange der Sturm heulte und an den Dächern riß, gegen die Fenster schlug und an den Türen rappelte, schlief man wohlig in der Wärme des Ofens. Aber plötzlich war es still, und Stille weckt auf, wenn man sich ganz auf Lärm eingestellt hat.
Luka Serafinowitsch richtete sich also auf Anastasias Ofenbank auf, lauschte nach draußen und wollte sich gerade zufrieden wieder zusammenrollen, als ihn ein Ton aufschreckte. Er gehörte nicht hierher, er war völlig fremd in dieser Nacht, und das fiel Luka Serafinowitsch auf. Er erhob sich von der Ofenbank, warf den pelzgefütterten Mantel über seine Schultern – schönes, dickes Wolfsfell, das wärmte wie ein Ofen –, öffnete die Haustür und steckte den Kopf in das lautlos gewordene Schneerieseln.
Jetzt war es deutlich zu hören: Gewaltiger Gesang ertönte.
Ein Lied? In der Nacht, während es schneit?
Luka Serafinowitsch fuhr herum, starrte auf das ›Leere Haus‹ und sah, daß es, hinter den Decken, die vor den Fenstern hingen, hell erleuchtet war. Und aus diesem verfluchten Haus drangen die dröhnenden Töne!
Luka machte einen kleinen Luftsprung, riß sich dann den Pelz über den Kopf und rannte die Straße hinunter, um Alarm zu schlagen. In der Kirche, wo er zuerst vorbeirannte, war alles dunkel. Der Pope rührte sich nicht, auch der Doktor schien fest zu schlafen. Luka rannte weiter, trommelte mit beiden Fäusten gegen die Tür des Dorfsowjets Petrow und brüllte heiser, als der Genosse schlaftrunken am Fenster erschien:
»Im ›Leeren Haus‹! Gesang! Unmenschliche Töne! Die Wände biegen sich!«
Man soll nicht glauben, wie schnell man ein ganzes Dorf aus dem Schlaf holen kann! Petrow alarmierte Gasisulin mit dem Ruf: »Im ›Leeren Haus‹ kracht es wieder. Diesesmal ist der Genosse Ingenieur dran!«
Gasisulin hüpfte herum, zog sich in rasender Eile an und raufte sich dabei die Haare. »Ein neuer Sarg! Gut und schön! Aber wie soll ich ihn in die Erde kriegen? Ich werde beantragen, daß man im Winter die Toten bis zum Frühjahr vereist!«
Dann rannte auch der Sargmacher los und weckte die Nachbarschaft.
Richtigen Schwung bekam die Sache allerdings erst, als man Jefim Aronowitsch, den Idioten, auf den Weg gebracht hatte. Er fand Worte, die auch den bequemsten Schläfer aufschreckten.
»Der Teufel singt im Geisterhaus!« schrie er mit seiner hellen Stimme. »Er singt Kirchenlieder! Der Weltuntergang ist gekommen! Der Weltuntergang!«
Von allen Seiten strömten die Bauern zusammen. Mit Fackeln und Laternen umringten sie in sicherer Entfernung das geheimnisvolle Haus und starrten es stumm an.
Was Jefim herausbrüllte, schien wahr zu sein: Das Haus war innen hell erleuchtet, und durch die Wände erklang die gewaltige Stimme. Oder kam die Stimme aus dem Kamin? Aus der Erde? Einige kannten das Lied und falteten erbleichend die Hände.
»Ein geisterhaftes Feuer!« stotterte der fromme Luka Serafinowitsch.
»Eine Teufelstrauung!« stammelte Anastasia, die plötzlich auch in einem bodenlangen Pelz vor ihrem Haus stand. »Hört ihr's nicht? Das ist der Choral ›Im Himmel steht euer Name …‹ O Mutter von Kasan, in meinem Haus feiern die Teufel eine Hochzeit!«
Sie schwankte, und Petrow mußte sie festhalten, sonst wäre sie umgefallen. Überall loderten jetzt die Fackeln, überall schwankte das Licht der Laternen; es gab wohl keinen Menschen in Satowka, der jetzt noch im Bett lag und an eine friedliche Nacht glaubte.
Ein Aufstöhnen ging durch alle Bewohner des Dorfes, als drinnen im Haus die gewaltige Stimme schwieg, dafür
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