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Natalia, ein Mädchen aus der Taiga

Natalia, ein Mädchen aus der Taiga

Titel: Natalia, ein Mädchen aus der Taiga Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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wettererfahrene Gasisulin.
    Trotz des heißen Tees und belegter Brote war die Stimmung schlecht. Man fror erbärmlich, löschte beim ersten Morgenlicht die Fackeln und Lampen und starrte weiter auf das stille, verfluchte Haus. Bald mußte doch etwas passieren! Ein Schrei, oder zwei oder drei Schreie, dann würde sich die schwere Bohlentür öffnen und – wenn alles der Chronik gemäß ablief – es schwankten, wankten oder krochen der Genosse Ingenieur, Väterchen Tigran und der verdammte kleine Doktor aus Batkit mit zerschnittenen Kehlen ins Freie, um vor dem Haus zu sterben …
    Verdächtig war, daß seit Stunden alles unheimlich still darin geblieben war, aber das Licht weiterhin hell brannte. Tassburgs Vorarbeiter, Konstantin und der Geologe hatten sich in Anastasias Wohnraum verzogen, saßen auf der Ofenbank und kauten an je einem Stück Dauerwurst. Nebenan lag die fromme Witwe noch immer in einer Art von Schock – sie war steif wie ein Brett! Der Gedanke, in ihrem geerbten Fluchhaus könne jetzt Väterchen Tigran umgekommen sein, lähmte sie völlig. Auch er ein Opfer des Teufelsspuks!
    Petrow, der ab und zu nach ihr sah und sie mit schielenden Augen musterte, trug auch nicht zur Aufheiterung bei, wenn er berichtete:
    »Alles ist still! Unheimlich, sage ich. Erst der Teufelsduettgesang – und jetzt das große Schweigen! Anastasia Alexejewna, man sollte dein Haus einfach abbrennen!«
    »Es brennt nicht«, antwortete die Witwe und blieb starr liegen. »In hundertfünfzig Jahren ist noch kein Blitz eingeschlagen, und Feuer von Menschenhand erlischt sofort …«
    Der Dorfsowjet verspürte einen kalten Schauer, zog die Schultern ein und verließ den Schlafraum der Witwe. Auf der warmen Ofenbank stopfte sich der Geologe gerade eine Pfeife.
    »Ich gehe gleich hinein!« sagte er.
    »Wo hinein?« fragte Petrow verständnislos.
    »Drüben in das Haus!«
    »Das verbiete ich Ihnen!« schrie Petrow und schielte den Geologen wütend an. »Wir haben genug von den Toten! Bringen Sie sich anders um, Genosse, aber nicht innerhalb unseres Kollektivs! Wenn Sie lebensmüde sind, hängen Sie sich in der Taiga auf oder stellen Sie sich nackt in den Frost und vereisen Sie! Aber dieses Haus betreten Sie nicht!«
    Er rannte ins Freie und schlug hinter sich die Tür zu. Der Geologe zündete sich die Pfeife an und blickte Konstantin an.
    »Glauben Sie auch an den Quatsch mit den Geistern?«
    »Es steht außer Zweifel«, antwortete Konstantin, »daß Kassugai in dem Haus erstochen wurde. Ich habe ihn selbst gesehen, bevor er begraben wurde. Ein Stich – genau in die Kehle! Und das Haus war leer … Tassburg war zu dieser Zeit bei Ihrem Bohrtrupp. Leer, sage ich! Unbewohnt! Und ein Mann wird darin erstochen. Haben Sie dafür eine Erklärung?«
    »Nein.«
    »Na also …«
    »Eben deshalb sollte man nachsehen.«
    »Um Kassugai zu folgen?«
    »Verdammt, es gibt keine Geister! Schon gar keine, die mit einem Messer um sich stechen.«
    »Aber Kassugai …«
    »Hören Sie auf mit Ihrem dämlichen Kassugai!« Der Geologe stieß dichte Rauchwolken aus seiner Pfeife und hüstelte. Es war ein verdammt scharfer Tabak. »Wenn Michail Sofronowitsch nicht bis zum Mittag herausgekommen ist, gehe ich hinein! Und keiner wird mich daran hindern! Auch dieser Petrow nicht. Und Sie gehen mit!«
    Konstantin unterließ es, darüber zu diskutieren. Abwarten! dachte er nur. Immer diese studierten Herren – diese Besserwisser!
    Alles ging schneller vor sich, als man gedacht hatte.
    Der Tag hatte sich endlich durch die Schneewolken gerungen, und die Leute von Satowka tranken den neunten Teekessel leer und aßen dazu warme Eierkuchen, die in drei Häusern für alle gebacken wurden, als sich die Tür des Spukhauses plötzlich öffnete.
    Ein Stöhnen ging durch die Reihe der Wartenden.
    Wer würde zuerst erscheinen?
    Gasisulin umklammerte Petrows Arm. Der Schneefall hatte noch mehr nachgelassen, es war nur noch ein leichtes Rieseln – fast konnte man die Flocken zählen …
    »Kein Schrei!« flüsterte Gasisulin, bleich bis zu den Zehen. »Diesmal ist es ruck, zuck gegangen! Nicht einmal Zeit zum Schreien hatten sie …«
    Und dann erschien der Genosse Tassburg. Aufrecht, in Hemd und Hose und kerngesund. Er breitete die Arme aus, reckte sich in der frischen Schneeluft und atmete tief ein. Er schien fast fröhlich zu sein …
    Erst nach seiner Morgengymnastik schien er zu bemerken, daß fast alle Dorfbewohner das Haus umringten und ihn sprachlos anstarrten. Aus

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