Natalia, ein Mädchen aus der Taiga
holprigen Wege in jene Einsamkeiten fahren darf, die Sie mit Ihren Bohrgeräten durchwühlen. Wir dürfen doch keine Fehlgeburt riskieren!«
»Wenn ich weiter nach Norden muß, wird Natalia in Satowka bleiben.«
»Das glauben Sie! Ja, ja – hier gibt es eine Hebamme. Die alte Rimma, man hat mir von ihr erzählt. Sie schlägt mit dem Kochlöffel auf den Leib der Wöchnerin und ruft: ›Komm heraus, du Wurm!‹ Und das Kind kommt! Bisher immer, wenn ich Tigran glauben darf. Hier in Satowka ist man das gewöhnt … aber ob es für Ihre Frau das richtige ist …«
»Sie können doch sagen, Dr. Plachunin, wann das Kind kommen wird. Wenn Sie dann von Batkit … ich meine, dann ist doch Frühling …«
»Michail Sofronowitsch, alles, was wir hier reden, sind bloße Spekulationen! Sicher ist nur eins: Natalia wird nicht allein in Satowka bleiben und Sie weiter in die Taiga ziehen lassen! Die geht mit! So schön ihr Köpfchen ist, so hart ist es auch! Vor allem kennt sie keine Angst, sie ist ja ein Kind dieser Wildnis! Michail, Sie werden in einen Wettlauf mit der Zeit kommen.«
»Das weiß ich.« Tassburg betrachtete den schnarchenden Tigran. Bei jedem Atemzug blähte sich sein Bart, es sah imposant aus. »Sobald es nicht mehr schneit, fliege ich nach Mutorej. Ich muß feststellen, ob man Natalia noch sucht, und ob Kassugais Verfolgung aktenkundig ist oder nur eine private Aktion war. Wenn sie das war, kann Natalia ohne Gefahr hier auftauchen.«
»Und wenn es doch amtlich war?« Dr. Plachunin sah Tassburg mit seitlich geneigtem Kopf an. »Geben Sie es doch zu – Sie rechnen damit!«
»Nein.«
»Sie belügen sich selbst, Tassburg! Wenn das mit dem Kind nicht wäre …«
»Was dann, Doktor?«
»Dann könnte man Natalia irgendwo verstecken – bei Freunden – und wenn's sein muß, auch bei mir, bis Gras über die Sache gewachsen ist. Aber mit einem Säugling? Ob in Batkit oder in Omsk – überall wird man fragen: Wer ist diese junge Mutter? Wo kommt sie plötzlich her? Sie wissen, wie genau jeder Nachbar den anderen beobachtet und wie man sich um neue Gesichter kümmert. In Moskau mag das anders sein … aber in Sibirien ist der einzelne Mensch noch interessant, wenn er irgendwo neu in einen Lebenskreis tritt. Es ist einfach, in der Taiga einen Menschen verschwinden zu lassen, das ist auch weiter nichts Neues, aber wenn ein Mensch dazukommt – dann ist er gewissermaßen Allgemeingut! Ist Ihnen das klar?«
»Sicherlich, das habe ich alles überlegt. Es gibt nur diesen Weg: Natalia muß vollkommen rehabilitiert werden.«
»Bei Kassugais Stellung wird das schwer! Und vor allem: Wo ist Kassugai geblieben? Und sein Begleiter? Selbst sein Auto ist verschwunden! Michail, wenn Sie diesen Stein ins Rollen bringen, rollt er bis Satowka. Und wer dann hierher kommt, der glaubt bestimmt nicht an Geister und an die Gräfin Albina, die mit ihrem Messer herumspukt und Kassugai erstochen hat! Man braucht nur den Dorftrottel Jefim Aronowitsch oder den kleinen Sargmacher in die Mangel zu nehmen, und schon ist die Wahrheit heraus!« Plachunin seufzte und rieb die heißen Fußsohlen aneinander. Die durchhitzten Ofensteine waren eine wahre Wonne. »Michail, ich biete Ihnen eine gesalzene Lungenentzündung an!«
»Würde die etwas an Natalias Lage ändern?«
»Kaum! Aber sie wäre erst einmal weg aus Satowka und noch weiter weg von Mutorej.« Plachunin winkte von selbst ab, ehe Tassburg antworten konnte. »Ich weiß, ich weiß, wir drehen uns im Kreise! Überall würde Natalia auffallen! Wäre sie ein altes Mütterchen … aber so, wie sie aussieht! Man kann sie einfach nicht verbergen.«
»Also warten wir«, sagte Tassburg rauh. »Die gute, alte russische Tugend: warten!«
»Sie hat noch immer Erfolg gehabt.« Dr. Plachunin reckte die Arme. »Mein Freund, jetzt werde ich auch müde. Ich lege mich auf den Tisch, einverstanden? Und Sie?«
»Ich warte den Morgen ab und trete dann vor das Haus. Wenn die Leute sehen, daß ich noch immer lebe, trotz allem Teufels- und Hochzeitsspuks, werden sie abziehen.«
»Sehr klug! Machen Sie's gut, Michail!« Dr. Plachunin kletterte auf den großen Tisch und streckte sich darauf aus. »Ich bin müde und ziemlich betrunken! Trotz allem: Es war eine schöne Nacht!«
Dieser Ansicht waren die Einwohner von Satowka nicht, als der Morgen dämmerte und das Tageslicht Mühe hatte, sich durch einen tiefgrauen Himmel zu quälen. »Mindestens noch zwei Wochen Schnee hängen darin!« prophezeite der
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