Natascha
hatte sich gehalten. Vorsitzender des Ministerrates war er geworden, der Nachfolger Stalins somit, und die anderen Großen im Kreml waren still und bescheiden und zwickten sich nur hinterrücks, wenn's möglich war. Von Doroguschin hatte niemand etwas wieder gehört, und auch Polina Jelzowa blieb in der Dunkelheit.
Nun war es heiß, ein Sommer, der die Poren überlaufen ließ und die Gehirne briet.
In dieses Stadium menschlicher Erweichung brachte die Post einen dicken Brief des Innenministeriums. Die Erlaubnis war's, nach Jessey zu fahren. Ein Stapel Papiere war beigegeben … Ausweise, Passierscheine, Kontrollblätter, die abgestempelt werden mußten, eine ganze Handvoll. Es schien schwer zu sein, bis Jessey vorzudringen, ein Kinderspiel war es dagegen, mit Malenkow zu sprechen.
»Wir müssen übermorgen fahren«, sagte Natascha, als sie die Papiere durchgelesen hatte. Plötzlich war Angst in ihr, nicht vor der Fahrt, sondern vor dem Wiedersehen mit Sedow. Sein Bild war mehr als blaß geworden … ein Name nur noch und ein Stück Papier, auf dem geschrieben stand, daß er der Mann der Natascha Sedowa sei, verwitwete Astachowa, geborene Tschugunowa. War das genug, bis Jessey zu fahren? War die Vergangenheit so lebensnah, daß man sie hinüberziehen konnte in die Gegenwart und Zukunft?
In den zwei Nächten bis zur Abfahrt schlief Natascha kaum. Und stärker wurde in ihr die Angst, je mehr sie dachte, daß es gut sei, was sie tat. Die Angst war's, in Jessey einen Fremden zu umarmen, der Sedow hieß.
Dann fuhren sie. Mit sechs Koffern und einem Sack. Luka war nicht untätig gewesen. Zwei Tage lang hatte er die Geschäfte beehrt, vom Fleischer bis zum Schuhmacher, vom staatlichen Basar bis zum Muschik aus Moskwarenkow, der seine Übersollwaren auf den Markt brachte, um Rubelchen zu sammeln.
»Brüder!« rief Luka, wenn er eintrat, und übersah das schreckhafte Erbleichen der Heimgesuchten. »Ich verreise mit Natascha! Vier Wochen, vielleicht zwei Monate, wer weiß's?! Sagt, ihr Geschmeiß … was ist's euch wert?«
Die Kaufleute waren geneigt, ein stilles Gebet zu sprechen. Zwei Monate Frieden vor Luka … Genossen, es war ein kleiner Himmel für das Viertel. Der Fleischer raste weg und brachte ein Stück Speck, der Muschik schob alte Kartoffeln in einer Kiste zur Seite und zog eine Henne aus der Tiefe, und im Basar steckte man Luka zwei Büchsen mit Marmelade zu und ließ sich schwören, daß er wirklich mindestens vier Wochen nicht wiederkomme.
Reich beschenkt trat Luka also die große Reise nach Sibirien an. Dieses Mal war es nicht nötig, einen Waggon mit Ersatzteilen auszusuchen, ein alter, klappriger Personenwagen stand zur Verfügung. Er wurde an einen Güterzug angehängt, aber immerhin war's ein Abteil mit Holzsitzen, verschiebbaren Fenstern und einem Klosett.
Fast eine Woche fuhren sie bis Jessey. Dann wurde der Wagen abgehängt, eine kleinere Lok spannte sich davor, und weg ging's in die Wildnis hinein, von der man glaubte, daß es ein weißes Land sei, unangetastet wie eine Jungfrau. Aber man irrt sich da manchmal, und es dauerte nicht lange, da wurden die Gleise mehrfach, sogar ein Flugplatz tauchte auf mit blinkenden Militärmaschinen, schnellen MIG-Jägern mit Schnauzen wie ein Bienenstachel. Hier endete die Fahrt, man stieg aus und passierte die erste scharfe Kontrolle. Ein Tor in einem mit Hochspannung geladenen Zaun. Ein Offizier der Roten Armee kontrollierte die Ausweise und grüßte höflich, als er Natascha sah.
»Die große Künstlerin«, sagte er galant. »Wir haben Sie gehört, Genossin, im Radio. Ich bewundere Sie. Die Ausweise sind in Ordnung, Sie können passieren.«
Hinter dem Wachhaus wartete ein Militärmannschaftswagen. Ein Feldwebel kam ihnen entgegen, als der Offizier ihm zuwinkte.
»Oho!« rief er, als er Luka sah. »Soll er zum Mond geschossen werden?! Welch eine Freude für das Mondkalb, einen Ochsen zu bekommen.«
Ein rauher Ton war's, und Luka kannte ihn. Er grinste tief zufrieden und spreizte seine Riesenhände.
»Seinen Schädel zerquetsch ich wie ein Eierchen!« grunzte er zu Natascha. »Feldwebel gibt's genug bei uns!«
»Einsteigen, Genossen!« rief der Feldwebel. Dann ging es wieder los, noch durch vier Sperren, und eine ärger als die vorhergehende. Ganz schlimm war's bei der letzten … dort mußten sie durch einen engen Raum, und ein unsichtbarer Röntgenapparat durchleuchtete sie nach verborgenen Waffen oder Sabotagematerial.
Am Ende des Ganges hielten zwei
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