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Nathalie küsst

Nathalie küsst

Titel: Nathalie küsst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foenkinos
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Erinnerungen an sein bisheriges Sinnesleben zu tilgen.
    Charles hatte darauf geachtet, kein Restaurant mit Kerzenschein zu wählen, er wollte sie mit seiner romantischen Ader, die sie vielleicht als deplatziert empfunden hätte, nicht vor den Kopf stoßen. Die ersten Minuten liefen perfekt. Sie tranken, tauschten kurze Sätze aus, und die kurzen Gesprächspausen, die sich mitunter einschlichen, brachten niemanden in Verlegenheit. Sie genoss es, dazusitzen und zu trinken. Dachte sich, sie hätte schon früher wieder ausgehen sollen, dass das Vergnügen schon kam, wenn man es sich nur bereitete und: Sie verspürte sogar Lust, sich zu betrinken. Und dennoch hinderte sie etwas daran, sich wirklich aufzuschwingen. Die Fähigkeit, aus sich selbst herauszutreten, war ihr nichtgegeben. Da konnte sie trinken, soviel sie wollte, das änderte nichts. Sie saß einfach da, bewahrte ihren kühlen Kopf und schaute sich selbst zu wie einer Theaterschauspielerin, die auf einer Bühne ein Stück spielte. Das eine Auge ihres zweigeteilten Ichs beobachtete verblüfft die Frau, die sie nicht mehr war, die sich des Lebens erfreuen und sich betören lassen durfte. Sie war mit keiner Faser imstande, am Sein teilzunehmen, das wurde ihr in diesem Moment besonders klar. Aber davon bekam Charles nichts mit. Er schwamm an der Oberfläche der Dinge, versuchte, sie zum Trinken zu animieren, damit sie ihm ein bisschen Zutritt zu ihrem Leben gewährte. Er stand unter ihrem Bann. Seit ein paar Monaten wirkte sie so russisch auf ihn. Er wusste nicht recht, was das zu bedeuten hatte, aber so war’s nun mal: In seiner Phantasie verfügte sie über russische Kräfte, neigte zu russischer Schwermut. Ihre weiblichen Züge hatten also eine Reise von der Schweiz nach Russland angetreten.
     
    «Also … wie kam es zu dieser Beförderung?», fragte sie. «
    Weil du eine hervorragende Arbeit leistest … und weil ich dich großartig finde, das ist alles.»
    «Das ist alles?»
    «Warum fragst du? Hast du das Gefühl, dass das nicht alles ist?»
    «Ich? Ich habe überhaupt kein Gefühl.»
    «Und wenn ich meine Hand hierhin lege, fühlst du dann auch nichts?»
    Unfassbar, was in ihn gefahren war. Er dachte sich, an diesem Abend sei alles möglich. Wie konnte er der Wirklichkeitso entrückt sein? Als er seine Hand auf die ihre gelegt hatte, war ihm sofort der Augenblick wieder eingefallen, in dem er ihr die Hand aufs Knie gelegt hatte. Der gleiche Blick. Und er hatte nicht anders gekonnt, als die Hand zurückzuziehen. Er hatte genug davon, gegen eine Wand anzurennen, ständig mit unausgesprochenen Dingen leben zu müssen. Er wollte klare Verhältnisse schaffen.
    «Ich gefalle dir nicht, stimmt’s?»
    «Aber … warum fragst du das?»
    «Und du, warum stellst du immer Fragen? Warum gibst du nie Antworten?»
    «Weil ich nicht so recht weiß …»
    «Meinst du nicht, dass du nach vorne schauen solltest? Ich verlange ja nicht von dir, dass du François aus deinem Gedächtnis streichst … aber du kannst dich doch nicht den Rest deines Lebens von der Außenwelt abkapseln … weißt du, ich bin für dich da …»
    «… Aber du bist doch verheiratet …»
    Charles war überrascht, dass sie seine Frau ins Spiel brachte. Es mag abwegig erscheinen, aber seine Frau hatte er ganz vergessen. Er fühlte sich nicht wie ein verheirateter Mann, der mit einer anderen Frau Essen geht. Er fühlte sich wie ein Mann, der im Augenblick lebt. Richtig, er war verheiratet. Er planschte
im seichten Wasser des Ehehafens
, wie er es ausdrückte. Die Beziehung zu seiner Frau war am Ende. Insofern war er überrascht, denn seine Liebe zu Nathalie war vollkommen ehrlich.
    «Aber warum redest du von meiner Frau? Sie ist eine Katastrophe! Ich bin ihr entgangen.»
    «Diesen Eindruck hat man gar nicht.»
    «Weil sie alles daransetzt, den Schein zu wahren. Das ist bloß eine Pose, wenn sie im Büro vorbeischaut. Aber wenn du wüsstest, wie unnatürlich unser Verhältnis ist, wenn du wüsstest …»
    «Dann verlass sie doch.»
    «Für dich würde ich sie sofort verlassen.»
    «Nicht für mich … für dich.»
    Es entstand eine Pause, die sich über mehrere Atemzüge, etliche Schlucke hinzog. Nathalie war entsetzt, dass er auf François zu sprechen gekommen war, dass er versucht hatte, den Abend zügig und mit wenig Finesse in eine ordinäre Richtung zu lenken. Sie erklärte schließlich, sie wolle nach Hause. Charles spürte freilich, dass er übers Ziel hinausgeschossen war, dass er ihr mit seinen

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