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Nathalie küsst

Nathalie küsst

Titel: Nathalie küsst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foenkinos
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hatte sie tief berührt. Paradoxerweise machte sie genau dieser Beistand nun unschlüssig. Wollte sie das? Sich in einem Umfeld bewegen, in dem alles nur aus Beileid und Anteilnahme bestand? Wenn sie zurückkäme, müsste sie die Komödie ihres Lebens spielen, so tun, als ginge es ihr prima. Denn in den Blicken der anderen eine Güte zu erkennen, die in Wirklichkeit eine Form von Mitleid war, das würde sie nicht aushalten.
    Steif stand sie vor der Tür zum Büro ihres Chefs und zögerte. Sie spürte, dass sie, wenn sie eintrat, tatsächlich wieder zu arbeiten beginnen würde. Endlich rang sie sich durch und ging, ohne anzuklopfen, hinein. Charles war vertieft in sein großes Lexikon, den
Larousse
. Das war so eine Schrulle von ihm: Allmorgendlich führte er sich eine Worterklärung zu Gemüte.
    «Na? Störe ich dich?», fragte Nathalie.
    Er sah überrascht auf. Sie glich einer Heiligenerscheinung. Seine Kehle schnürte sich zu, er fürchtete, sich nicht mehr rühren zu können, vor Überwältigung zu erstarren. Sie kam näher.
    «Hattest du dir gerade deine Worterklärung vorgeknöpft?»
    «Ja.»
    «Was ist denn heute dran?»
    «Das Wort
Empfindsamkeit
. Kein Wunder, dass du genau in dem Augenblick erschienen bist.»
    «Das ist ein schönes Wort.»
    «Ich freu mich, dich hier zu sehen. Endlich. Ich hatte gehofft, du würdest kommen.»
    Dann entstand ein Schweigen. Komisch, aber es ergab sich immer ein solcher Moment, in dem sie nicht wussten, was sie einander sagen sollten. Und in solchen Fällen bot Charles stets an, ihr eine Tasse Tee zu machen. Das war wie Benzin für den Redefluss. Schließlich fuhr er sehr aufgeregt fort:
    «Die schwedischen Aktionäre waren da. Weißt du eigentlich, dass ich mittlerweile ein bisschen Schwedisch kann?»
    «Nein.»
    «Doch … Sie wollten, dass ich Schwedisch lerne … So ein Pech für mich. Das ist nämlich echt eine Scheißsprache.»
    «…»
    «Aber okay, das bin ich ihnen wohl schuldig. Sie sind ziemlich flexibel, das muss man schon sagen … Na ja … Also ich erzähle dir das … weil ich mit ihnen über dich gesprochen hab … und sie sind einverstanden, dass wir alles so einrichten, wie es dir entgegenkommt. Du kannst dir deine Zeit frei einteilen, wenn du wieder anfangen magst, ganz wie du willst.»
    «Das ist nett von dir.»
    «Das ist nicht einfach bloß nett von mir. Wir vermissen dich hier, wirklich.»
    «…»
    «Ich vermisse dich.»
    Während er das sagte, durchbohrte er sie mit einem forschenden Blick. Mit dieser Art von allzu eindringlichem Blick, die leicht lästig wird. Bei diesem Blick dehnt sich die Zeit ins Unendliche: Eine Sekunde wird zu einer langen Rede. Im Grunde genommen ließen sich zwei Punkte nicht von der Hand weisen: Erstens hatte er sich von Anbeginn zu ihr hingezogen gefühlt. Zweitens hatte sich dieses Gefühl seit dem Tod ihres Mannes verstärkt. Es fiel ihm schwer, sich diese Zuneigung einzugestehen. War das ein morbider Zug? Nein, nicht unbedingt. Ihr Gesicht. Es schien durch die Katastrophe noch erhabener. Die Trauer mehrte Nathalies erotisches Potenzial beträchtlich.

 
23
    Definition des Begriffs der Empfindsamkeit laut
Larousse
    Empfindsamkeit, die: feines, zartes Empfinden, Feinfühligkeit
    Definition von Empfindlichkeit, die Empfindsamkeit reicht nämlich nicht aus, um die Empfindsamkeit zu begreifen
    Empfindlichkeit, die
    1. Eigenschaft, empfindlich auf bestimmte Reize zu reagieren
    2. Verletzbarkeit, Reizbarkeit:
man muss ihre E. in solchen Dingen berücksichtigen.

 
24
    Nathalie saß an ihrem Schreibtisch. Gleich am Morgen ihrer Wiederkehr war sie mit etwas Schrecklichem konfrontiert worden: dem Abreißkalender. Aus Rücksicht hatte es niemand gewagt, ihre Sachen anzurühren. Und niemand hatte daran gedacht, wie grausam es für sie sein würde, auf ihrem Schreibtisch einen Kalender vorzufinden, auf dem die Zeit seit ihrem letzten Arbeitstag vor der Katastrophe stillstand. Auf dem es zwei Tage vor der Katastrophe war. Auf diesem Kalenderblatt war François noch am Leben. Sie nahm das Ding in die Hand und begann, die Seiten umzudrehen. Die Tage zogen vor ihren Augen vorüber. Seitdem François tot war, war ihr jeder Tag so vorgekommen, als sei er mit einem ungeheuren Gewicht beladen. Dahingegen konnte sie hier, indem sie die Blätter durch die Finger gleiten ließ, in wenigen Augenblicken den tatsächlich zurückgelegten Weg ermessen. All diese Kalenderblätter, und sie war immer noch da. Und jetzt war sie beim heutigen Tag

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