Nathalie küsst
weiblicher Tragik. Hier war sie, seine große Liebe, Nathalie:
«Entschuldige, dass ich dir eben keine richtige Antwort gegeben habe … mir war das peinlich …»
«Ja, ich verstehe.»
«Es ist so schwer, das, was ich fühle, in Worte zu fassen.»
«Ich weiß, Nathalie.»
«Aber ich glaube, ich weiß die Antwort: Du gefällst mir tatsächlich nicht. Und ich glaube, es ist mir auch unangenehm, wie du versuchst, mich zu bezirzen. Zwischen uns wird nie etwas sein, da bin ich mir sicher. Vielleicht werde ich einfach nicht mehr imstande sein, jemanden zu lieben, abersollte ich es eines Tages doch in Betracht ziehen, dann kommst du eigentlich nicht infrage.»
«…»
«Ich konnte so nicht in Frieden nach Hause gehen. Ich wollte, dass das gesagt ist.»
«Nun ist’s gesagt. Du hast’s gesagt. Genau, du sagst es. Ich hab’s gehört, und das liegt wahrscheinlich daran, dass du’s gesagt hast. Nun ist es raus, genau.»
Nathalie beobachtete Charles, der weiter vor sich hin stammelte. Wortfetzen, die nach und nach von einem Schweigen geschluckt wurden. Die dem Blick eines Sterbenden glichen. Nathalie deutete eine zärtliche Geste an: Legte ihre Hand auf seine Schulter. Und kehrte dahin zurück, woher sie gekommen war. Wurde wieder zu der Nathalie, die immer kleiner wurde. Charles versuchte, stehen zu bleiben, und es fiel ihm nicht leicht. Das haute ihn glatt um. Vor allem der Ton, in dem sie zu ihm gesprochen hatte. Ganz schlicht, ohne eine Spur von Bösartigkeit. Er musste den Tatsachen ins Auge blicken: Er gefiel ihr nicht, er würde ihr nie gefallen. Er verspürte keinerlei Zorn. Etwas, das ihm jahrelang Leben eingehaucht hatte, war zu einem plötzlichen Ende gekommen. Zum Ende einer theoretischen Möglichkeit. Der Abend war dem Kurs der
Titanic
gefolgt. Was sich feierlich anließ, erlitt bald Schiffbruch. Die Wahrheit gleicht häufig einem Eisberg. Immer noch nicht hatte sich Nathalie aus seinem Gesichtsfeld entfernt, und er wünschte, dass sie dies so schnell wie möglich tun würde. Selbst als winziger Punkt, der sie jetzt war, erschien sie ihm schrecklich unmäßig.
29
Charles schlenderte ein wenig herum, bis zum Parkplatz. Er setzte sich ins Auto und rauchte eine Zigarette. Sein Innenleben stand in vollkommenem Einklang mit dem aggressiven Gelb der Neonlichter. Er ließ den Motor an und schaltete das Radio ein. Der Moderator sprach von einer seltsamen Unentschiedenserie am Abend, die in der Tabelle der ersten Liga den Status quo aufrechterhielt. Das war alles gut aufeinander abgestimmt. Ihm war zumute wie einem Verein, der durch ein träges Meisterschaftsrennen stolpert. Er war verheiratet, hatte eine Tochter, leitete ein hübsches Unternehmen, doch in ihm gähnte eine große Leere. Seine Sehnsucht nach Nathalie war das Einzige, was ihn am Leben gehalten hatte. Alles vorbei, zunichte, zerstört, ruiniert. Sosehr er auch die Synonyme aneinanderreihte, es würde nichts mehr ändern. Da fiel ihm ein, dass es Schlimmeres gab, als von einer geliebten Frau abgewiesen zu werden: ihr jeden Tag begegnen zu müssen. Immer in ihrer Nähe zu sein, auf den Gängen auf sie zu stoßen. Auf die Gänge kam er nicht zufällig. Er fand sie schön, wenn sie sich in Büros aufhielt, doch er war immer der Ansicht gewesen, dass sich ihr erotisches Potenzial auf Gängen kräftiger entfaltete. Genau, seiner Meinung nach war sie eine Frau, die auf einen Gang gehörte. Und wenn man am Ende eines Gangs angelangt war, musste man umkehren, das begriff er soeben.
Dagegen sollte man nie noch einmal umkehren, wenn man auf dem Nachhauseweg ist. Charles fuhr die Straßen entlang, die er jeden Tag entlangfuhr. Der Weg roch derart nach Wiederholung des immer Gleichen, dass man hätte meinen können, er führe mit der Metro. Er stellte den Wagen ab und rauchte auf dem Parkplatz vor seinem Haus noch eine Zigarette. Als er seine Wohnungstür öffnete, entdeckte er seine Frau, die fernsah. Niemand wäre auf den Gedanken gekommen, dass Laurence einst von so etwas wie einer ungestümen Lüsternheit beseelt gewesen war. Langsam, aber sicher suhlte sie sich in einer prototypischen bourgeoisen Depression. Eigenartigerweise betrübte Charles das Bild, das sich ihm darbot, überhaupt nicht. Er ging gemütlich auf den Fernseher zu und schaltete ihn ab. Seine Frau stieß einige Protestlaute aus, ohne übermäßige Überzeugung. Er trat an sie heran und packte sie fest an den Armen. Sie wollte sich zur Wehr setzen, aber sie brachte keinen Ton über
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