Nathalie küsst
schien sie nicht loszulassen. Plötzlich fragte sie:
«Die Blumen, die ich damals hätte ausfahren sollen… hast du sie am Ende hingebracht?»
«Ich hatte andere Sachen im Kopf. Ich bin sofort zu dir.»
«Aber hat der Mann denn nicht angerufen?»
«Doch, natürlich. Ich hab am nächsten Tag mit ihm telefoniert. Er war ziemlich verärgert. Seine Verlobte hatte den Blumenstrauß ja nicht gekriegt.»
«Und weiter?»
«Und weiter … ich hab ihm erklärt, warum sie die Blumen nicht bekommen hat … gesagt, dass du einen Unfall gebaut hast … und dass der Mann im Koma liegt …»
«Und was hat er darauf gesagt?»
«Ich weiß nicht mehr genau … er hat sich entschuldigt … und dann hat er noch irgendwas gemurmelt … wenn ich richtig verstanden habe, sah er darin ein Zeichen. Ein ganz schlechtes Zeichen.»
«Willst du damit sagen … meinst du, er hat das Mädchen dann nicht gefragt, ob sie ihn heiraten will?»
«Keine Ahnung.»
Diese Geschichte brachte Charlotte ganz durcheinander. Sie erlaubte sich, den betreffenden Mann anzurufen. Er bestätigte, dass er sich entschieden hatte, seinen Heiratsantrag zu verschieben. Die Nachricht erschütterte sie zutiefst. Das konnte sie so nicht stehen lassen. Sie ließ den Lauf der Ereignisse Revue passieren. Die Hochzeit sollte verschoben werden. Und möglicherweise wurde auf diese Art eine Vielzahlvon Ereignissen verschoben? Es widerstrebte ihr, dass all diese Leben in andere Bahnen gelenkt werden sollten. Sie dachte: Wenn ich es wiedergutmache, ist es doch so, als wäre es gar nicht geschehen. Wenn ich es gutmache, kann ich wieder ein normales Leben führen.
Im Nebenzimmer des Ladens band sie einen absolut identischen Strauß. Anschließend stieg sie in ein Taxi. Der Chauffeur erkundigte sich:
«Fahren Sie zu einer Hochzeit?»
«Nein.»
«Zu einem Geburtstag?»
«Nein.»
«Zu … einer Abschlussfeier?»
«Nein. Ich will bloß nachholen, was ich an dem Tag, an dem ich jemanden überfahren habe, hätte tun sollen.»
Schweigend setzte der Chauffeur seine Route fort. Charlotte stieg aus dem Wagen. Legte den Strauß auf den Fußabstreifer vor der Wohnung der Frau. Bei dem Anblick hielt sie einen Augenblick inne. Dann nahm sie ein paar Rosen aus dem Strauß heraus. Mit denen machte sie sich davon und bestieg erneut ein Taxi. Seit dem Unglückstag trug sie François’ Adresse mit sich herum. Sie hatte es vorgezogen, Nathalie nicht kennenzulernen, was sicherlich die richtige Entscheidung gewesen war. Hätte die angerichtete Zerrüttung ein Gesicht bekommen, wäre es wohl noch schwieriger geworden, sich sein Leben wiederaufzubauen. Doch in dem Moment folgte sie einem Instinkt. Sie wollte nichtlange nachdenken. Das Taxi rollte, nun hielt es an. Zum zweiten Mal innerhalb von wenigen Minuten fand sich Charlotte auf dem Treppenabsatz vor der Wohnung einer Frau wieder. Sie legte eine Handvoll weißer Blumen vor Nathalies Tür nieder.
22
Nathalie öffnete die Tür und horchte in sich hinein: War das der richtige Zeitpunkt? Seit drei Monaten war François tot. Drei Monate, das war gar nicht so lange her. Ihr Zustand hatte sich kein Stück gebessert. Sie spürte, dass in ihr der Tod unerbittlich Wache schob. Freunde hatten ihr geraten, wieder anzufangen zu arbeiten, sich nicht gehen zu lassen, sich zu beschäftigen, damit ihr die Zeit nicht unerträglich lang wurde. Sie wusste nur zu gut, dass die Arbeit nichts ändern würde, dass sie vielleicht sogar alles schlimmer machen würde. Vor allem am Abend, wenn sie nach Hause kommen würde und er nicht da wäre, niemals wieder da wäre.
Sich nicht gehen lassen
, was für ein komischer Ausdruck. Was immer auch geschieht, man lässt sich gehen. Leben bedeutet: sich gehen lassen. Alles, was sie wollte, war: sich gehen lassen. Nicht mehr die Last jeder Sekunde spüren müssen. Sie sehnte ihre Leichtigkeit zurück, eine unerträgliche hätte schon gereicht.
Sie hatte nicht vorher anrufen wollen, sondern tauchte lieber einfach so auf, unerwartet, auch um weniger Aufsehen zu erregen. In der Eingangshalle, im Fahrstuhl, auf den Gängen waren ihr zahlreiche Kollegen über den Weg gelaufen, und alle hatten sich mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln bemüht, ihr gegenüber ein wenig menschliche Wärme auszustrahlen. Mit Worten, Gesten, einem Lächeln oder manchmal auch mit einem Schweigen. Die Verhaltensformen waren so unterschiedlich wie die Menschen, auf die sie traf, doch die einmütige und dezente Weise, ihr beizustehen,
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