Nathalie küsst
Eigenartiges:Mithilfe Chloés von Unreife getränkten Erzählungen gelang es Nathalie, in eine verloren geglaubte Welt einzutauchen. In die Welt ihrer Jugend, als sie befürchtet hatte, keinen Mann zu finden, mit dem sie sich verstehen würde. Chloés Worte beschworen so etwas wie die Ahnung einer Erinnerung herauf.
1 In ihrer neuen Funktion hatte sie sich drei Paar Schuhe gekauft.
32
Auszug aus dem Drehbuch zu
Nathalie küsst
SZENE 32: INNEN, BAR
Nathalie und Chloé betreten eine Bar.
Sie sind nicht zum ersten Mal hier. Nathalie geht hinter Chloé her. Sie setzen sich etwas abseits in Fensternähe.
Außen: eventuell Regen.
CHLOÉ. (ganz locker). Na? Alles in Ordnung?
NATHALIE. Ja, alles prima.
Chloé beobachtet Nathalie.
NATHALIE. Warum sehen Sie mich so an?
CHLOÉ. Ich finde es schade, dass unser Verhältnis so unausgewogen ist. Erzählen Sie doch mehr von sich. Wir reden immer nur von mir.
NATHALIE. Was wollen Sie denn hören?
CHLOÉ. Es ist lange her, dass ihr Mann gestorben ist … und … stört es Sie, wenn wir darüber reden?
Nathalie scheint überrascht zu sein. Für gewöhnlich spricht niemand sie auf dieses Thema so direkt an.
Pause, dann fährt Chloé fort.
CHLOÉ. Es ist doch so … Sie sind jung und schön … Und nehmen Sie zum Beispiel diesen Mann da, seitdem wir hier hereingekommen sind, schaut er Sie die ganze Zeit an.
Nathalie dreht sich um und begegnet dem Blick des Mannes, der sie anschaut.
CHLOÉ. Ich finde ihn echt nicht schlecht. Ich glaube, er ist Skorpion. Und da Sie Fisch sind, ist das die ideale Verbindung.
NATHALIE. Ich habe ihn noch gar nicht richtig gesehen, und Sie stellen schon Prognosen auf?
CHLOÉ. Oh, das Sternzeichen ist schon ein ausschlaggebender Faktor. Das ist das Hauptproblem mit meinem Freund.
NATHALIE. Dann ist da nichts zu machen? Er kann ja nicht zu einem anderen Sternzeichen übertreten.
CHLOÉ. Nein, er ist Stier und wird es immer bleiben, der Idiot.
Großaufnahme von Nathalies ausdruckslosem Gesicht.
SCHNITT
33
Nathalie kam sich lächerlich vor, hier zu sitzen und mit einem so jungen Mädchen derartige Diskussionen zu führen. Vor allem brachte sie es immer noch nicht fertig, im unmittelbaren Augenblick zu leben. Vielleicht konnte man das Leid so beschreiben: als eine Art, jeder gegenwärtigen Situation entfremdet zu sein. Gleichgültig sah sie dem Affenzirkus für Erwachsene zu. Sie konnte ohne Weiteres von sich behaupten: Ich bin gar nicht richtig da. Chloé versuchte, sie zurückzuhalten, sie in Richtung des Gedankens «Ich bin voll da» zu drängen, indem sie mit heiterer, schwungvoller Gegenwärtigkeit auf Nathalie einredete. Unermüdlich sprach Chloé von diesem Mann. Und siehe da, schon trank er sein Bier aus, und man spürte genau, dass er überlegte, ob er zu ihnen rüberkommen sollte. Aber der Übergang vom ersten Blick zur ersten Konversation, von den Augen zum Mund, ist keine einfache Sache. Nach einem langen Arbeitstag war er in der Art von ausgeruhter Stimmung, die einen mitunter antreibt, etwas zu wagen. Oft ist Erschöpfung der Schlüssel zu einer kühnen Tat. Er ließ Nathalie nicht aus den Augen. Was hatte er denn zu verlieren? Nichts, höchstens den Charme eines Unbekannten.
Er bezahlte sein Getränk und gab seinen Beobachtungsposten preis. Er machte einen Schritt, den man beinahe für einen entschlossenen Schritt hätte halten können, nach vorn. Nathalie war nur noch wenige Meter von ihm entfernt. Drei oder vier, nicht mehr. Ihr wurde klar, dieser Mann würde sie ansprechen. Sofort kam ihr ein merkwürdiger Gedanke: Möglich, dass dieser Mann, der auf mich zugeht, in sieben Jahren überfahren wird. Dieser Moment zeigte, wie zerbrechlich sie war, und musste sie unweigerlich beunruhigen. Jeder Mann, der sie ansprechen würde, würde ihr automatisch die Begegnung mit François ins Gedächtnis rufen. Dieser hier erinnerte allerdings mitnichten an ihren verstorbenen Mann. Mit einem Feierabendlächeln, einem Heile-Welt-Lächeln trat er vor. Doch als er an ihrem Tisch stand, blieb er stumm. Hing in der Luft. Er hatte sich entschieden, sich an sie heranzumachen, hatte sich aber nicht den geringsten Satz zurechtgelegt, mit dem er einsetzten könnte. Womöglich war er schlichtweg zu ergriffen? Erstaunt betrachteten die Frauen diesen erstarrten Mann, der dastand wie ein Ausrufezeichen.
«Guten Abend … darf ich mir erlauben, Sie auf ein Gläschen einzuladen?», verkündete er schließlich etwas uninspiriert.
Chloé
Weitere Kostenlose Bücher