Nathalie küsst
früh zu Hause sein wollen, aber es war schon nach Mitternacht. Die Leute um sie herum verließen das Lokal. Der Kellner bedeutete ihnen plump, dass es vielleicht langsam Zeit wurde aufzubrechen. Markus stand auf, ging auf die Toilette und bezahlte die Rechnung. Er tat das alles mit viel Eleganz. Als sie auf der Straße standen, schlug er vor, sie nach Hause zu begleiten. Er war so zuvorkommend. Vor ihrem Haus fasste er sie an der Schulter und küsste sie auf die Wange. Ihm ging in diesem Moment auf, was er eigentlich schon wusste: Dass er rettungslos in sie verliebt war. Nathalie fand, dass dieser Mann mit jeder seiner Aufmerksamkeiten Zartgefühl bewies. Sie freute sich richtig, dass sie diesen Abend mit ihm verbracht hatte. Sie konnte an nichts anderes denken. Als sie in ihrem Bett lag, schickte sie ihm eine SMS, um sich zu bedanken. Und löschte das Licht.
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Wortlaut der SMS von Nathalie an Markus nach ihrem ersten gemeinsamen Abendessen
Danke für den schönen Abend.
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Seine Antwort war ein Schlichtes: «Durch Sie konnte er erst schön werden.» Er hätte etwas Originelleres, Lustigeres, Herzerweichenderes, Romantischeres, literarisch Wertvolleres, Russischeres, etwas Mauvefarbeneres antworten wollen. Aber letztlich entsprach das ausgezeichnet der Stimmungslage des Moments. Er lag im Bett und wusste, er würde nicht schlafen können. Wie konnte man süß träumen, wenn man gerade erst aus einem Traum erwacht war?
Es gelang ihm, ein wenig zu schlafen, doch eine Angst weckte ihn. Wenn so ein Abend gut läuft, taumelt man vor Freude. Und dann, allmählich, tritt der Scharfsinn auf den Plan und lässt einen die weiteren Ereignisse vorwegnehmen. Wenn so ein Abend schlecht läuft, sind die Dinge wenigstens klar: Mansieht sich nie wieder. Doch wie galt es in dem Fall weiter vorzugehen? All das im Laufe des Abends gewonnene Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein verflüchtigte sich in der Nacht: Man durfte nie die Augen schließen. Seine Vorahnungen nahmen nach einem gewöhnlichen Vorgang Gestalt an. Am frühen Morgen waren Nathalie und Markus sich auf den Gängen über den Weg gelaufen. Der eine ging gerade Richtung Kaffeeautomat, die andere kam gerade vom Kaffeeautomaten zurück. Sie hatten sich verlegen zugelächelt und dann ein etwas theatralisches
bonjour
über die Lippen gebracht. Sie waren beide außerstande gewesen, darüber hinaus ein Wort zu verlieren, irgendeine Belanglosigkeit zu äußern, die in ein Gespräch hätte münden können. Nichts, gar nichts. Nicht einmal ein schüchterner Fingerzeig auf das Wetter, keine Bemerkung über die Wolken oder den Sonnenschein, nein, nichts, die weiteren Aussichten: trübe. In diesem Unbehagen waren sie auseinandergegangen. Sie hatten sich nichts zu sagen gehabt. Manche Leute nennen das
die interstellare Leere danach
.
Markus saß in seinem Arbeitszimmer und versuchte, sich zu beruhigen. Dass nicht immer alles perfekt sein konnte, war völlig normal. Das Leben bestand in erster Linie aus verworrenen Situationen, Stellen, die man streichen konnte, und Pausen. Bei Shakespeare werden auch nur die lichten Momente der Figuren erwähnt. Doch träfen Romeo und Julia am Morgen nach einem schönen Abend im Gang aufeinander, hätten sie sich bestimmt auch nichts zu sagen. Das war alles nicht schlimm. Er musste vielmehr seinen Blick auf dieZukunft richten. Darauf kam es an. Und man kann sagen, dass er das gut hinbekam. Sehr bald sprudelte er vor Ideen für abendliche Unternehmungen, vor nächtlichen Plänen. Er schrieb alles auf einem großen Blatt Papier nieder, eine Art Angriffsstrategie. Die Akte 114 existierte nicht mehr in seinem kleinen Büro, die Akte 114 war durch die Akte Nathalie beseitigt worden. Er hatte niemanden, dem er sich anvertrauen, den er um Rat fragen konnte. Es gab durchaus ein paar Kollegen, mit denen er in einem guten Verhältnis stand. Vor allen Dingen Berthier teilte er sich mit und schüttete hin und wieder seine Herzensangelegenheiten aus. Aber was Nathalie betraf, kam es überhaupt nicht infrage, hier irgendjemanden einzuweihen. Er musste seine Unsicherheit hinter einem Schweigen verschanzen. Schweigen konnte er zwar, doch er fürchtete, dass sein Herz, wenn es so laut pochte, deutlich zu hören war.
Im Internet sah er sich alle möglichen Seiten an, auf denen romantische Abendunterhaltungen angeboten wurden, Schiffsfahrten (es war allerdings kalt draußen) oder Theaterbesuche (im Theater war es allerdings meistens zu warm und außerdem
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