Nathalie küsst
nicht traut, miteinander nach Hause zu gehen, aber auf gar keinen Fall auseinandergehen will. Ein Gefühl der Zaghaftigkeit setzt sich fest. Und nachts kommt es noch stärker zur Geltung.
«Darf ich Sie küssen?», fragte er.
«Ich weiß nicht so recht … ich bin ein bisschen erkältet.»
«Macht nichts. Ich bin bereit, mir ein paar Bazillen einzufangen. Darf ich Sie küssen?»
Nathalie war überaus angetan davon, dass er vorher fragte. Das war eine Form von Takt. Jeder Augenblick mit diesem Mann brach aus dem Gewöhnlichen aus. Wie hätte sie nach dem, was sie hinter sich hatte, daran glauben können, je wieder ein solches Entzücken zu empfinden? Markus war einzigartig.
Mit einem Nicken willigte sie ein.
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Dialogpassage aus dem Woody-Allen-Film
Celebrity,
die Markus zu seiner Erwiderung inspirierte
CHARLIZE THERON . Du hast doch nicht etwa Angst, dir Bazillen einzufangen? ‹Na ja, wenn ich jetzt ’ne Erkältung kriege›, und so was.
KENNETH BRANAGH . Bei dir wär ich bereit, mich mit multiplem Krebs anzustecken.
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So außergewöhnlich ein Abend auch sein mag, so unvergesslich eine Nacht, am Ende steht doch immer ein Morgen wie jeder andere. Nathalie fuhr mit dem Fahrstuhl zur Arbeit nach oben. Da es ihr zuwider war, mit Leuten auf engem Raum zu stehen, lächeln zu müssen und Höflichkeiten auszutauschen, wartete sie, bis der Lift leer war. So genoss sie den kurzen Moment, in dem sie in diesem Käfig, der uns zu Ameisen im Tunnel macht, ihren täglichen Pflichten entgegenrauschte. Beim Aussteigen stieß sie mit ihrem Chef zusammen. Im buchstäblichen Sinne des Wortes: Sie prallten richtig gegeneinander.
«Erstaunlich … gerade hab ich mir gedacht, dass wir uns zur Zeit wenig sehen … und schwuppdiwupp, schon treffe ich dich! Wenn ich gewusst hätte, dass ich mit solchen Mächten gesegnet bin, hätte ich noch andere Wünsche ausgesprochen …»
«Sehr gewitzt.»
«Nein, im Ernst, ich muss mit dir reden. Kannst du mal eben zu mir ins Büro kommen?»
In jüngster Vergangenheit hatte Nathalie beinahe vergessen, dass es Charles auch noch gab. Er war so etwas wie eine alte Telefonnummer, ein Glied, das von der modernen Zeitabgehängt worden war. Er gehörte ins Rohrpostzeitalter. Sie fand es seltsam, dass sie sich jetzt wieder in sein Arbeitszimmer bemühen sollte. Seit wann war sie nicht mehr dort gewesen? Sie wusste es nicht genau. Die Konturen des Gewesenen begannen zu verschwimmen, sich in Gedanken aufzulösen, sich unter den Malen des Vergessens zu verbergen. Und damit hatte sie den glücklichen Beweis dafür, dass das Hier und Jetzt an seine Stelle trat. Sie ließ den Vormittag verstreichen, dann machte sie sich auf.
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Typische Telefonnummern aus einer anderen Zeit
Odéon 32-40
Passy 22-12
Clichy 12-14
80
Nathalie betrat Charles’ Arbeitszimmer. Ihr fiel gleich auf, dass die Jalousien tiefer nach unten gezogen waren als sonst, als unternähme er den Versuch, das Tageslicht in Dunkelheit zu tauchen.
«Es ist echt schon lange her, dass ich das letzte Mal hier gewesen bin», bemerkte sie im Gehen.
«Ja, lang ist’s her …»
«Wirst im
Larousse
wohl weit gekommen sein seit der Zeit …»
«Ach, der
Larousse
… nein. Damit hab ich aufgehört. Ich hab die Schnauze voll von Definitionen. Im Ernst, kannst du mir sagen, was das nützt, wenn man die Bedeutungen von Wörtern kennt?»
«Um mich das zu fragen, wolltest du mich sprechen?»
«Nein … nein … Aber wir laufen uns ja ständig über den Weg … und ich wollte mich einfach nur mal erkundigen, wie es dir geht … wie’s zur Zeit bei dir läuft …»
Bei diesen letzten Worten geriet er fast ins Stottern. Sobald er dieser Frau gegenübertrat, glich er einer entgleisenden Lokomotive. Ihm war schleierhaft, wie sie eine derartige Wirkung auf ihn haben konnte. Natürlich war sie schön, natürlich hatte sie eine Art, die er bewunderte, aber trotzdem: War das genug? Er war ein Mann in einer mächtigen Position,und die rothaarigen Sekretärinnen fingen manchmal an zu gackern, wenn er vorüberging. Er hätte jede Menge Frauen haben können, jede Woche fünf Schäferstündchen in Fünfsternehotels verbringen können. Was also war los? Er wusste keinen Rat. War er einem totalitären ersten Eindruck erlegen? Das war der einzige Grund, der infrage kam. Jener Augenblick, in dem er ihr Gesicht auf dem Lebenslauf erblickt hatte, in dem er sich entschlossen hatte: Ich werde selbst das Vorstellungsgespräch mit ihr führen. Dann
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