Nathalie küsst
damit niemandem die Szene der Ankunft der schönen Frau entgehen konnte, mit der er verabredet war. Ein wichtiger, keinesfalls als trivial zu bewertender Schritt. Ein Schritt, der garantiert nicht unter die Rubrik männliche Eitelkeit fiel. Er fiel unter etwas anderes, etwas viel Bedeutenderes: Es war ein erster Akt des Sich-selbst-Annehmens.
Zum ersten Mal seit Langem hatte er vergessen, sich morgens von zu Hause ein Buch mitzunehmen. Nathalie hatte angekündigt,sie würde so schnell wie möglich kommen, aber es könne sein, dass er ein wenig warten müsse. Markus stand auf, holte sich eine Gratiszeitschrift und vertiefte sich ins Lesen. Ziemlich rasch stieß er auf eine fesselnde Geschichte. Er war ganz in die Lokalnachrichten versunken, als Nathalie auftauchte.
«Na, wie geht’s? Stör ich Sie?»
«Nein, natürlich nicht.»
«Sie machen einen so konzentrierten Eindruck.»
«Ach, ich habe nur einen Artikel gelesen … über ein geplatztes Mozzarella-Geschäft.»
Daraufhin brach Nathalie in Gelächter aus, in ein so schallendes Gelächter, wie man es nur bei Übermüdung anstimmt. Sie konnte gar nicht mehr aufhören. Markus musste zugeben, dass man das als lustig empfinden mochte, und begann seinerseits zu lachen. Beide überkam die Albernheit. Er hatte spontan geantwortet, ohne lang nachzudenken. Und jetzt lachte sie und hörte nicht mehr auf. Für Markus ein vollkommen verrückter Anblick. Es war, als säße ihm ein Fisch mit Beinen gegenüber (jeder hat so seine Metaphern). Jahrelang hatte er sie in Hunderten von Besprechungen als gewissenhafte Frau erlebt, zart, aber gewissenhaft, genau. Natürlich hatte er sie auch lächeln sehen, er hatte sie ja sogar schon zum Lachen gebracht, aber nicht so. Dass sie mit einer derartigen Inbrunst lachte, hörte er zum ersten Mal. Aus Nathalies Sicht war alles Wichtige vorhanden: Dieser Moment führte ihr klar vor Augen, warum sie so gern mit Markus zusammen war: Mit einem Mann, der im Café saß, sie mit einem breiten Lächeln empfing und dann mit ernster Miene verkündete, er lese einen Artikel über ein geplatztes Mozzarella-Geschäft.
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Der in der Zeitschrift Métro erschienene Artikel mit dem Titel «Ein geplatztes Mozzarella-Geschäft»
«Bei der Zerschlagung illegaler Mozzarella-Geschäfte sind gestern sowie vorgestern in Bondoufle (Département Essonne) fünf Personen vorläufig festgenommen worden. Wie Pierre Chuchkoff, der die von der Gendarmerie Évry aufgenommenen Ermittlungen leitet, mitteilte, wurden in den vergangenen zwei Jahren zwischen 60 und 70 Paletten, also 30 Tonnen ausgesprochen hochwertigen Mozzarellas eingelagert und in der umliegenden Gegend bis nach Villejuif (Département Val-de-Marne) weiterverkauft. Der Schaden beläuft sich schätzungsweise auf 280.000 Euro, es handelt sich also um kein Kavaliersdelikt. Die Ermittlungen, die nun zur Überführung der Mozzarella-Bande führten und die sich vor allem gegen zwei Pizzeria-Betreiber richten, waren im Juni 2008 eingeleitet worden, als die Transportunternehmensgruppe STEF Strafanzeige gestellt hatte. Eine der besagten Pizzerien befindet sich in Palaiseau, wo vermutlich auch die Drahtzieher des Geschäfts sitzen. Ungeklärt ist noch, wer der Anführer der Bande ist und wo die mit dem Mozzarella gemachte Beute abgeblieben ist.
V. M.»
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In einer Liebesgeschichte spielt der Alkohol in zwei ungleichartigen Situationen eine Rolle: Zum einen, wenn man den anderen kennenlernt und etwas von sich preisgeben muss, und zum anderen, wenn man sich nichts mehr zu sagen hat. In diesem Fall handelt es sich um die erste Situation. Die Situation, in der man nicht merkt, wie die Zeit vergeht und in der manches Ereignis, das heißt vor allem die Kussszene, in einem neuen Licht erstrahlt. Nathalie hatte geglaubt, eine zufällige Regung habe ihr diesen Kuss aufgetragen. Stimmte das vielleicht nicht? Gab es gar keinen Zufall? Lag dies alles auf einem Weg, den eine unbewusste Intuition sich bahnte? Ihr Gefühl, dass die Gesellschaft dieses Mannes ihr guttun würde. Dieses Gefühl, das sie glücklich machte, dann schwermütig, dann wieder glücklich. Ununterbrochen ging die Reise zwischen Froh- und Trübsinn hin und her. Und nun führte sie die Reise ins Freie. Hinaus in die Kälte. Nathalie spürte, dass ihr das nicht guttat. Durch das Hin und Her der vergangenen Nacht hatte sie sich erkältet. Wo konnten sie jetzt hin? Es zeichnete sich einer dieser langen Spaziergänge ab, die man macht, wenn man sich
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