Nathalie küsst
diesen sagenumwobenen Markus. Dass er ihm soeben begegnet war, wäre ihm nicht im Traum eingefallen. Dieser Mistkerl, erst eroberte er Nathalies Herz, und dann besaß er auch noch die Frechheit, nicht zu erscheinen, wenn man ihn einbestellte. Welch rebellischer Geselle mochte das wohl sein? Aber so würde das nicht laufen. Für wen hielt der sich? Charles rief seine Sekretärin an:
«Ich habe einen gewissen Markus Lundell in mein Büro gebeten, und er ist immer noch nicht da. Können Sie mal nachsehen, was da los ist?»
«Aber Sie haben ihn doch weggeschickt.»
«Nein, er war nicht da.»
«Doch. Ich habe ihn gerade aus Ihrem Büro kommen sehen.»
Hierauf gingen bei Charles sämtliche Lichter aus, als fege ein plötzlich aufkommender Wind durch ihn hindurch. Ein Nordwind freilich. Er fiel fast in Ohnmacht. Die Sekretärin musste Markus noch einmal rufen. Dieser hatte eben erst auf seinem Stuhl Platz genommen und sollte nun abermals aufstehen. Er fragte sich, ob Charles ihn möglicherweise zum Narren halten wollte. Er dachte, vielleicht hat er sich über die schwedischen Aktionäre aufgeregt und will sich daher an einem ihrer Landsmänner rächen. Markus wollte nicht das Jo-Jo seines Chefs sein. Wenn das so weiterging, würde er tatsächlich noch auf das Ansinnen von Jean-Pierre aus dem zweiten Stock zurückkommen und der Gewerkschaft beitreten.
Erneut betrat er das Chefzimmer. Charles hatte gerade den Mund voll. Er versuchte, sich mit Knäckebrot zu beruhigen. Eine verbreitete Entspannungstechnik, Dinge zu tun, die einem auf den Geist gehen. Er zitterte, er schwankte, aus seinem Mund bröselten Krümel. Markus war sprachlos. Wie war es möglich, dass ein solcher Mann ein Unternehmen lenkte? Doch Charles war natürlich noch sprachloser. Wie war es möglich, dass ein solcher Mann Nathalies Herz lenkte? Aus ihrer beider Sprachlosigkeit erwuchs ein der Zeit entrückter Moment, in dem niemand ahnen konnte, was nun folgen würde. Markus wusste nicht, worauf er gefasst sein sollte. Und Charles wusste nicht, was er sagen sollte. In erster Linie war er außerordentlich schockiert: «Aber wie kann das denn sein? Er ist widerwärtig … Überhaupt keinErscheinungsbild … Ein lascher Typ, das sieht man doch, dass er lasch ist … O nein, das darf nicht wahr sein … Außerdem schaut er die Leute so schräg von der Seite an … O nein … was für ein Skandal … Dieser Mann kommt für Nathalie nicht infrage … auf gar keinen Fall, nein und nochmals nein … Oh, wie er mich anwidert … Und es kommt auch nicht infrage, dass er weiter um sie herumschwänzelt … auf gar keinen Fall … Den schicke ich heim nach Schweden … Genau … eine nette kleine Versetzung … Gleich morgen versetze ich ihn!»
Charles konnte ungemein lange so vor sich hin brüten. Zu sprechen war er nicht in der Lage. Aber na gut, er hatte ihn rufen lassen, also musste er auch etwas sagen. Um Zeit zu gewinnen, bot er an:
«Wollen Sie ein Knäckebrot?»
«Nein danke. Ich habe Schweden verlassen, um diese Art von Brot nicht mehr essen zu müssen … das heißt, ich werde hier nicht wieder damit anfangen.»
«Aha … aha … sehr lustig … aha … hi!»
Charles stieß ein schallendes Gelächter aus. Das Arschloch hatte Humor. So ein Arschloch aber auch … Das sind ja die Schlimmsten: erst ein depressives Gesicht machen und dann plötzlich mit Späßen auftrumpfen … Wenn man überhaupt nicht damit rechnet, zack, ein Witz … Bestimmt war das sein Rezept. Charles hatte immer das Gefühl gehabt, dass es eine Schwäche von ihm war, dass er die Frauen seines Lebens nicht genug zum Lachen gebracht hatte. Beim Gedanken an Laurence stellte er sich sogar die Frage, ob er nichtdie Gabe hatte, Frauen düster zu stimmen. Seit zwei Jahren, drei Monaten und siebzehn Tagen hatte seine Frau nicht mehr gelacht, schon richtig. So etwas vergaß er nicht, er hatte nämlich in seinen Kalender, so wie sich andere eine Mondfinsternis notieren, eingetragen: «Heute hat meine Frau gelacht.» Na ja, genug der gedanklichen Abschweifungen. Es galt zu reden. Was hatte er eigentlich zu befürchten? Er war schließlich der Boss. Er verfügte darüber, wer wie viele Essensgutscheine bekam, das war doch schon mal was. Nein, im Ernst, er musste sich am Riemen reißen. Aber wie sollte er es angehen, mit dem Mann ins Gespräch zu kommen? Wie ihm ins Gesicht sehen? Ach ja, die Vorstellung, dass Markus an Nathalie Hand anlegte, widerte ihn an. Dass er seine Lippen auf die ihrigen
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