Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nathalie küsst

Nathalie küsst

Titel: Nathalie küsst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foenkinos
Vom Netzwerk:
dass er gealtert war. Sie hatte es eben an der Art gemerkt, wie er sich schlurfend in seinen Pantoffeln fortbewegte. Sie hatte sich gedacht: Bevor er nachschauen geht, was überhaupt los ist, nimmt sich dieser Mensch, der mitten in der Nacht geweckt worden ist, die Zeit, seine Pantoffeln anzuziehen. Diese Achtsamkeit in Bezug auf seine Füße war ergreifend. Er kam zurück ins Wohnzimmer.
    «Also, was gibt’s? Was nicht warten kann?»
    «Ich wollte dir das hier zeigen.»
    Sie holte also die PEZ-Figur aus ihrer Tasche, und der Vater wurde auf der Stelle von denselben Gefühlen wie die Tochter überwältigt. Dieses kleine Dingsda brachte beiden den gleichen Sommer in Erinnerung. Mit einem Mal war seine Tochter wieder acht Jahre alt. Da näherte sie sich sachte dem Vater und legte ihren Kopf an seine Schulter. Diese PEZ-Figur verkörperte ihre einstige Innigkeit, aber auch alles, was nicht durch radikale Brüche, sondern eher unmerklich mit der Zeit auf der Strecke geblieben war. Diese PEZ-Figur stand für die Zeit vor dem Verhängnis, für eine Zeit, in der das Unglück mit einem Fallen, einer Schramme abgetan war. Diese PEZ-Figur stand für ein Bild des Vaters, für den Mann, auf den sie als Kind freudig zugelaufen kam, dem sie sich in die Arme warf, an den sie sich fest drückte und dabei mit unermesslicher Zuversicht in die Zukunft blickte. Verblüfft betrachteten sie die Figur, dieses mickrige belanglose Objekt, das doch alle Schattierungen des Lebens in sich trug und so herzzerreißend war.
    Da begann Nathalie zu weinen. Richtig zu weinen. Die vor dem Vater stets zurückgehaltenen Tränen. Sie wusste nicht, warum sie sich in seiner Gegenwart immer beherrscht hatte. Vielleicht weil sie ein Einzelkind war? Weil sie deswegen auch die Rolle des Jungen hatte spielen müssen? Des Jungen, der nicht weint. Dabei war sie doch ein kleines Mädchen, ein Mädchen, das um ihren Mann gebracht worden war. So begann sie nach all dieser Zeit, unter dem Schleier der sich verflüchtigenden Aura des PEZ, in den Armen des Vaters zu weinen. Sich treiben zu lassen in einer Hoffnung auf Trost.

 
74
    Als Nathalie am nächsten Tag in die Arbeit kam, fühlte sie sich leicht kränklich. Am Ende hatte sie bei ihren Eltern übernachtet. Sie war bei Tagesanbruch, noch bevor die Mutter aufgewacht war, kurz bei sich zu Hause gewesen. Wie damals nach den durchfeierten Nächten ihrer Jugend, als sie es bis zum Morgengrauen krachen ließ, sich dann umzog, um gleich weiter an die Uni zu fahren. Das Widersinnige an diesem körperlichen Zustand, stellte sie fest, war dies: Die Erschöpfung machte einen munter. Sie stattete Markus einen Besuch ab und nahm überrascht zur Kenntnis, dass er genau das gleiche Gesicht machte wie am Vortag. Eine Art heimliche Macht des immer Gleichen. Ein tröstlicher, ja erleichternder Gedanke.
    «Ich wollte mich bei Ihnen bedanken … für das Geschenk.»
    «Keine Ursache.»
    «Darf ich Sie heute Abend auf einen Drink einladen?»
    Markus schüttelte den Kopf und dachte: «Ich bin derjenige, der verliebt ist, aber die Initiative zu unseren Verabredungen ergreift immer sie.» Er dachte vor allem, dass er keine Angst zu haben brauchte, dass es lächerlich gewesen war, sich so zurückzuziehen, sich schützen zu wollen. Dass man niemals versuchen sollte, sich ein potenzielles Leid zu ersparen.Wieder einmal überlegte er und überlegte und antwortete ihr sogar, wo sie doch seit ein paar Minuten schon wieder weg war. Er überlegte weiter, das alles könne ihm nur Schmerz und Enttäuschung einbringen, ihn zu dem totesten Punkt führen, den ein Gefühlsleben nur erreichen konnte. Nichtsdestotrotz hatte er Lust, sich mit ihr zu treffen. Er hatte Lust, zu einer Reise mit unbekanntem Ziel aufzubrechen. Es würde kein Drama geben. Zwischen der Insel des Elends, auch die Insel der Versäumnisse genannt, und der in weiterer Ferne liegenden Insel der Hoffnung verkehrte eine Fähre, das wusste er.
    Nathalie hatte gleich ein Café als Treffpunkt vorgeschlagen. Nachdem sie den Geburtstagsumtrunk tags zuvor ja fluchtartig verlassen hatten, erschien etwas mehr Unauffälligkeit angebracht. Außerdem dröhnten ihr immer noch Chloés Fragen im Ohr. Für ihn ging das in Ordnung, auch wenn er theoretisch imstande gewesen wäre, jedes Mal eine Pressekonferenz anzuberaumen, um ein weiteres Rendezvous mit Nathalie zu verkünden. Er war als Erster da und entschied sich für einen Platz, der weithin gut sichtbar lag. Ein strategisch gewählter Platz,

Weitere Kostenlose Bücher