Nathalie küsst
bis heute Abend … Markus! Schönen Tag noch … und es lebe die Arbeit!»
Markus verließ das Büro, sprachlos wie der Sonnenschein bei einer Finsternis.
85
Anzahl der im Jahre 2002 verkauften Knäckebrotpackungen
22,5 Millionen
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Es hatte sich überall herumgesprochen: Markus und Nathalie standen in einem Liebesverhältnis. In Wahrheit hatten sie sich lediglich dreimal geküsst. Laut Gerüchteküche war sie schwanger. Genau, die Leute dichteten noch was dazu. Und um die Tragweite eines Gerüchts zu berechnen, braucht man nur die Einnahmen zu beziffern, die am Kaffeeautomaten erzielt werden. Für heute deutete sich ein historischer Ertrag an. Wenn auch jeder im Betrieb Nathalie kannte, so wusste doch niemand wirklich, wer Markus war. Er galt als diskretes Glied einer Kette, als durchsichtige Faser eines Gewebes. Als er, vom soeben Erlebten leicht benommen, zurück auf sein Zimmer ging, fiel ihm auf, dass sich zahlreiche Blicke auf ihn richteten. Er verstand nicht, woher das kam, und ging auf die Toilette, um den Faltenwurf seines Jacketts, seine Strähnen, seine Zahnzwischenräume und seine Gesichtsfarbe zu begutachten. Es gab nichts zu beanstanden, alles war an seinem Platz.
Im Laufe des Tages nahm das Interesse an seiner Person ständig zu. Zahllose Beschäftigte fanden einen Vorwand, um den Kopf bei ihm hereinzustecken. Man stellte ihm Fragen, man hatte sich in der Tür geirrt. Vielleicht war das bloß ein Zufall. Es gibt solche Tage, die außergewöhnlich ereignisreich sind, ohne dass sich genau erklären ließe, warum. Das liegt amMond, hätte seine schwedische Tante gesagt, die in Norwegen eine berühmte Wahrsagerin war. Dadurch, dass er pausenlos unterbrochen wurde, kam er gar nicht zum Arbeiten. Verflixt und zugenäht: An dem Tag, an dem sein Chef ihn zu seinen Leistungen beglückwünscht hatte, hatte er keinen Finger gerührt. Möglich, dass ihm auch das zu schaffen machte. Wer nie im Mittelpunkt gestanden hat, wer die Welt nur so kennt, dass das eigene Treiben sowieso niemanden kümmert, für den ist es keine leichte Sache, mit einem Mal ins Rampenlicht geschubst zu werden. Und dann war da noch Nathalie. Er war ganz von ihr erfüllt. Und sie erfüllte ihn immer mehr. Das letzte Rendezvous hatte ihm viel Hoffnung gegeben. In seinem Leben vollzog sich allmählich eine seltsame Wendung, die Ängste und Unsicherheiten nahmen freundlich ihren Hut.
Auch Nathalie hatte gespürt, dass um sie herum eine merkwürdige Betriebsamkeit herrschte. Es war nur so ein dumpfes Gefühl, bis zu dem Augenblick, in dem Chloé, Verfechterin unverblümter Vorgehensweisen, sich ein Herz fasste:
«Darf ich Sie was fragen?»
«Ja.»
«Es heißt, Sie hätten eine Affäre mit Markus. Ist das wahr?»
«Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, dass Sie das nichts angeht.»
Diesmal war Nathalie aber richtig gereizt. Alles, was sie an der jungen Frau einmal gemocht hatte, schien sich in Luft aufzulösen. Sie sah nur noch, dass Chloé von einer niederenManie besessen war. Wie Charles sich benommen hatte, hatte sie schon bestürzt, und nun ging das so weiter. Wieso waren sie alle so aus dem Häuschen? Chloé stotterte, aber gab nicht auf:
«Es ist bloß so, dass ich mir das bei Ihnen überhaupt nicht vorstellen …»
«Jetzt reicht’s. Gehen Sie», brauste Nathalie auf.
Instinktiv spürte sie, je mehr auf Markus herumgehackt wurde, desto tiefer fühlte sie sich ihm verbunden. Um so weiter eine verständnislose Welt von ihnen abrückte, desto fester schweißte sie dies zusammen. Chloé kam sich vor wie der letzte Dreck, als sie das Zimmer verließ. Es war ihr so wichtig, einen besonderen Draht zu Nathalie zu haben, aber eben hatte sie sich angestellt wie eine Idiotin. Andererseits war sie fraglos erschüttert. Und dem durfte sie doch Ausdruck verleihen, oder? Und außerdem war sie nicht die Einzige. Dem Gedanken an eine Liebschaft der beiden haftete etwas Ungebührliches an. Nicht, dass sie Markus nicht mochte oder gar abstoßend fand, sie konnte ihn sich nur nicht mit einer Frau zusammen vorstellen. Sie hatte ihn die ganze Zeit für ein Ufo gehalten, das von einem männlichen Stern kam. Nathalie hingegen hatte in ihren Augen immer ein weibliches Ideal verkörpert. Instinktiv sträubte sie sich demnach gegen diese Beziehung, und das wiederum hatte zu ihrem Verhalten geführt, das nicht gerade von Feingefühl zeugte, das wusste sie schon. Aber als sie alle fragten: «Na? Na? Hast du Informationen?», da spürte sie,
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