Nathalie küsst
presste. Welch ein Frevel, was für ein Vergehen! Ach, Nathalie. Es war nicht zu leugnen, dass er sie immer geliebt hatte. Die Liebe ist unbezwinglich. Er hatte geglaubt, es würde leicht sein, sie zu vergessen. Von wegen, die einstmaligen Gefühle hatten in ihm weitergeschlummert und gelangten nun, in der spöttischsten Gestalt, wieder an die Oberfläche.
Ihm schwebte eine noch rigorosere Lösung als die Versetzung vor: die Entlassung. Markus musste bei der Arbeit irgendeinen Fehler begangen haben, so etwas war unvermeidlich. Alle Welt macht Fehler. Andererseits handelte es sich bei Markus um keinen Allerweltsmenschen. Er ging mit Nathalie aus, daran merkte man es schon. Vielleicht war er einer von diesen Musterangestellten, die Sorte, die Überstunden macht und dazu noch lächelt, einer von denen, die nie eineGehaltserhöhung fordern. Mit anderen Worten: einer von der schlimmsten Sorte. Dieses Genie war vielleicht nicht mal in der Gewerkschaft.
«Sie wollten mich sprechen?», wagte Markus sich vor. Nachdem Charles mehrere Minuten mit seiner Sprachlosigkeit auf Tauchstation gegangen war, funkte er dazwischen.
«Ja … ja … Ich bringe nur eben meine Gedanken zu Ende, und dann bin ich gleich für Sie da.»
Er konnte ihn nicht ewig so warten lassen. Oder doch: Er würde ihn den ganzen Tag so warten lassen, nur um zu sehen, wie er reagierte. Allerdings schien ihn das vor keine größeren Probleme zu stellen. Denn wenn er es recht bedachte: Es gibt doch nichts Unangenehmeres, als jemandem gegenüberzustehen, der nichts sagt. Vor allem, wenn man diesen Jemand zum Chef hat. Jeder andere würde doch Zeichen der Anspannung erkennen lassen, würde ein paar Tropfen schwitzen, mit den Händen herumfuchteln, die Beine übereinanderschlagen und wieder nebeneinanderstellen … Nun ja, das war bei Markus alles nicht der Fall. Er stand seit zehn oder vielleicht seit fünfzehn Minuten da und rührte sich nicht. In vollkommen stoischer Gelassenheit. Unerhört, wenn man sich das mal überlegte. Diesen Mann zeichnete unzweifelhaft eine große mentale Stärke aus.
Zur gleichen Zeit war es schlicht das reichlich unangenehme Gefühl der Ungewissheit, das Markus steife Glieder verursachte. Er kapierte nicht, was hier vor sich ging. Jahrelang hatte er seinen Chef nie zu Gesicht bekommen, und jetzt rief dieser Chef ihn zu sich, um sich mit ihm in Schweigen zuhüllen. Ungewollt vermittelte jeder dem anderen ein Bild der Stärke. Es war an Charles, das Wort zu ergreifen, doch nichts zu machen. Seine Zunge stand unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Unablässig blickte er wie unter Hypnose tief in Markus’ Augen. Zuerst hatte er sich ja mit dem Gedanken getragen, sich ihn vom Hals zu schaffen, doch allmählich tat sich eine zweite Option auf. Bei aller Feindseligkeit übte dieser Markus doch offensichtlich eine gewisse Faszination auf ihn aus. Er durfte sich seiner nicht entledigen, im Gegenteil, er musste ihn in Aktion erleben. Endlich machte er Anstalten, mit ihm zu reden:
«Pardon, ich habe Sie warten lassen. Es ist nur so, dass ich mir gern die Zeit nehme, meine Worte abzuwägen, bevor ich sie an jemanden richte. Im Speziellen, wenn es darum geht zu verkünden, was ich Ihnen zu verkünden habe.»
«…»
«Genau, ich habe nämlich Wind davon bekommen, wie Sie die Akte 114 verwalten. Sie wissen ja, mir bleibt hier nichts verborgen. Es kommt alles ans Licht. Und ich muss sagen, ich schätze mich überaus glücklich, Sie zu unseren Mitarbeitern zählen zu dürfen. Und auch gegenüber den Schweden habe ich von Ihnen geschwärmt, und die sind wahnsinnig stolz, dass sie einen so kompetenten Landsmann haben.»
«Danke …»
«Ich bin doch derjenige, der zu danken hat. Man merkt Ihnen an, dass Sie eine treibende Kraft dieser Gesellschaft sind. Im Übrigen würde ich Ihnen gern in einem besonderen Rahmen persönlich gratulieren. Ich glaube, ich verbringenicht genügend Zeit mit den tüchtigen Elementen unseres Konzerns. Es wäre mir eine Freude, Sie näher kennenzulernen. Wir könnten zum Beispiel heute Abend essen gehen, wie wär’s? Was meinen Sie, hä? Na, das ist doch eine gute Idee, oder?»
«Öh … einverstanden.»
«Ach, herrlich, es wird mir ein Vergnügen sein! Und es gibt ja im Leben nicht nur die Arbeit … Wir können uns auch über jede Menge anderer Dinge unterhalten. Ich finde das gut, wenn man hin und wieder die Schranken zwischen Führungskräften und Mitarbeitern niederreißt.»
«Wenn Sie meinen.»
«Na dann,
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