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Nathalie küsst

Nathalie küsst

Titel: Nathalie küsst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foenkinos
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auf und verschwand. Sie war froh, dass ihr niemand begegnete, dass sie nichts zu sagen brauchte. Ihre Flucht musste lautlos vonstattengehen. Sie stieg in ein Taxi, sagte «zur Gare Saint-Lazare», wo sie einen Fahrschein kaufte. Als der Zug abfuhr, begann sie zu weinen.

 
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    Die von Nathalie gewählte Reiseverbindung nach Lisieux
    Abfahrt von Paris Saint-Lazare: 16 Uhr 33
    Ankunft in Lisieux: 18 Uhr 02

 
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    Nathalies Verschwinden führte umgehend dazu, dass die Abläufe der gesamten Abteilung ins Stocken gerieten. Es galt, die entscheidende Sitzung dieses Quartals zu leiten. Sie war gegangen, ohne irgendwelche Anweisungen zu hinterlassen, ohne irgendjemandem Bescheid zu geben. Auf den Gängen kam es zu Gezeter, der ein oder andere kritisierte ihre mangelnde Professionalität. Binnen weniger Minuten verspielte sie kläglich all ihren Kredit: Es war der Triumph des Augenblicks über ein in langen Jahren erworbenes Ansehen. Da alle über ihre Verbindung zu Markus auf dem Laufenden waren, wandte man sich immerzu an ihn: «Weißt du, wo sie ist?» Er musste gestehen, es nicht zu wissen. Und das war fast so, als würde er damit sagen: «Nein, ich stehe in keiner besonderen Beziehung zu ihr. Sie hat mich nicht in ihre Irrungen eingeweiht.» Das Rechenschaft-Ablegen-Müssen war mühselig. Die neuesten Vorkommnisse sollten ihn das zuletzt gewonnene Prestige kosten. Als fiele allen unvermittelt wieder ein, dass er doch nicht so wichtig war. Man fragte sich sogar, wie man auch nur einen Moment hatte glauben können, er sei ein enger Vertrauter von Natalie Portman.
    Mehrmals hatte er versucht, sie zu erreichen. Vergeblich. Ihr Telefon war aus. Er konnte sich nicht auf die Arbeitkonzentrieren. Er drehte sich im Kreise. In seinem winzigen Büro ging das schnell. Was tun? Das Selbstvertrauen der letzten Tage begann geschwind zu bröckeln. In seinem Kopf lief immer wieder dieses Mittagessen ab. Er erinnerte sich, so etwas wie «Hauptsächlich kommt es auf die Wahl der richtigen Vorspeise an» von sich gegeben zu haben. Wie konnte man nur so dumm daherreden? Man brauchte nach gar keiner Erklärung zu suchen. Er war der Situation eben nicht gewachsen gewesen. Sie hatte doch noch zu ihm gesagt, dass sie sich verloren vorkam, und er hatte auf seiner Wolke gesessen, auf der ihm nichts Besseres eingefallen war, als ein paar leichtfertige Phrasen fallen zu lassen. Der kleine Däumling! In was für einer Welt lebte er überhaupt? Jedenfalls in keiner, in der eine Frau ihm ihre Adresse hinterließ, bevor sie die Flucht ergriff. Das war natürlich alles sein Fehler. Er schlug die Frauen in die Flucht. Am Ende würde Nathalie noch Nonne werden. Nachdem sie in Züge und Flugzeuge gestiegen war, um nicht mehr die gleiche Luft wie er atmen zu müssen. Er fühlte sich schlecht. Er fühlte sich schlecht, weil er sich schlecht benommen hatte. Nichts erzeugt höhere Schuldgefühle als das Gefühl der Verliebtheit. Das geht so weit, dass man sich für sämtliche Wunden des anderen verantwortlich glaubt. Im gleichen Wahn kommen wir in einer Art demiurgischen Anwandlung dahin zu denken, dass das Herz des anderen nur für unser Herz schlägt. Dass sich das Leben nur auf den engen Bahnen um die Lungengefäße abspielt. Markus und Nathalie lebten in der gleichen Welt. In einer heilen ungebundenen Welt, in der er zugleich für alles und für nichts Verantwortung trug.
    Und so kam ihm die heile Welt auch wieder in den Sinn. Allmählich gelang es ihm, seine Gedanken unter Kontrolle zu bekommen. Schwarz und Weiß in Einklang zu bringen. Er erinnerte sich der zarten Momente, die sie miteinander verbracht hatten. Wahrlich zart waren diese Momente gewesen und konnten nicht einfach so ungeschehen gemacht werden. Die Angst, Nathalie zu verlieren, hatte seinen Verstand benebelt. Diese Angst war seine Schwäche, und diese Schwäche machte gleichzeitig seinen Charme aus. Wenn man so die Schwächen aneinanderreiht, gelangt man irgendwann zu einer Stärke. Er wusste nicht, wie es jetzt weitergehen sollte, er hatte keine Lust zu arbeiten, er hörte auf, das Leben unter rationalen Gesichtspunkten zu betrachten. Er wollte verrückt sein, seinerseits die Flucht ergreifen, in ein Taxi steigen und den erstbesten Zug nehmen.

 
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    Da wurde er zum Leiter der Personalabteilung gerufen. Es wollten ihn wirklich alle sprechen. In vollendeter Sorglosigkeit machte er sich auf. Seine Furcht vor Autoritätspersonen war dahin. Seit ein paar Tagen war alles nur noch ein Spiel.

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