Nathalie küsst
jeder Tag Gefahr, in einer Katastrophe zu enden. Wozu sich aufregen, wo doch alles absurd ist?, dachte er von Zeit zu Zeit, ein Gedanke, der sicherlich leicht auf seine Cioran-Lektüre zurückzuführen war. Vielleicht macht das Wissen um den Nachteil, geboren zu sein, das Leben schöner. DerAnblick des schlafenden Charles festigte in ihm die Sicherheit, die noch weiter anschwellen sollte.
Zwei Damen um die fünfzig näherten sich und wollten ein Gespräch beginnen, doch Markus gab ihnen ein Zeichen, dass sie leise sein sollten. Dabei war das doch ein Lokal, wo auch Musik gespielt wurde. Endlich richtete Charles sich wieder auf, überrascht, inmitten dieses heimeligen Rosas zu erwachen. Er bemerkte Markus, der seinen Schlaf gehütet hatte, sowie das Jackett, mit dem er zugedeckt war. Er versuchte zu lächeln, doch schon beim Ansatz einer Bewegung spürte er die Kopfschmerzen, die ihn plagten. Zeit zu gehen. Draußen graute schon der Morgen. Zusammen erreichten sie das Büro. Als sie aus dem Aufzug stiegen, gaben sie sich zum Abschied die Hand.
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Später am Vormittag machte sich Markus in Richtung Kaffeeautomat auf. Ihm fiel gleich auf, dass die anderen Angestellten vor ihm zurückwichen. Er war Moses, vor dem sich das Rote Meer teilte. Vielleicht erscheint die Metapher etwas hochgegriffen. Doch man muss sich vor Augen halten, was vor sich ging. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden hatte der so zurückhaltende und farblose Markus, der, dem Vernehmen nach, nichts Besonderes war, eine der schönsten,wenn nicht die schönste Frau des Hauses ausgeführt (und, um diese Heldentat gebührend zu würdigen: Diese Frau galt als unverführbar), um anschließend mit dem Chef essen zu gehen. Es war sogar beobachtet worden, wie er am Morgen zusammen mit dem Chef ins Büro gekommen war, was weitere einschlägige Gerüchte nährte. Viel auf einmal im Leben eines Mannes. Alle begrüßten ihn und warteten mit einem «Wie geht’s denn heute so?» hier und einem «Alles paletti mit der 114?» dort auf. Plötzlich interessierten sich alle für diese verdammte Akte, für jeden Atemzug, den er tat. Im Laufe des Vormittags wurde Markus fast schlecht davon. Dieser Umschwung war zu heftig, dazu gesellte sich die durchgemachte Nacht. Er hatte den Eindruck, im Schnelldurchlauf von ein paar Minuten nachholen zu müssen, was er in Jahren der Anonymität versäumt hatte. Natürlich konnte das alles nicht mit rechten Dingen zugehen. Da steckte doch etwas dahinter, an der Sache musste etwas faul sein. Es hieß, er sei ein Agent des schwedischen Geheimdienstes, der Sohn des größten Aktionärs, angeblich schwer krank, ein allseits bekannter Pornodarsteller in Schweden, er sei auserwählt, um auf dem Mars das Menschengeschlecht zu repräsentieren, es hieß, er sei ein enger Vertrauter von Natalie Portman.
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Statement von Isabelle Adjani anlässlich der Gerüchte, denen zufolge sie an AIDS litt bzw. für tot erklärt wurde, in den 20-Uhr-Nachrichten vom 18. Januar 1987 gegenüber dem Moderator Bruno Masure
«Wenn ich heute hierherkomme und sage: ‹Ich bin nicht krank›, ist es gerade so, als würde ich sagen: ‹Ich habe kein Verbrechen begangen›. Das ist schrecklich für mich.»
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Nathalie und Markus trafen sich zum Mittagessen. Er war müde, aber seine Augen standen weit offen. Sie konnte kaum glauben, dass das Essen die ganze Nacht gedauert haben sollte. Vielleicht ergaben sich mit ihm die Dinge immer so? Alles kam unvorhergesehen. Das war ja zum Lachen. Andererseits fand sie keinerlei Geschmack an dem Wirbel, der ihrer beider wegen veranstaltet wurde. Was sie da gerade miterleben musste, fand sie bedenklich, war ihr peinlich. Das schäbige Gebaren der Leute erinnerte sie an die Zeit nachFrançois’ Tod. An die bedrückenden Beileidsbekundungen. Wahrscheinlich war es nur so eine fixe Idee, doch sie sah darin so etwas wie die Relikte der Kollaboration. Wenn sie sich das Verhalten des ein oder anderen vor Augen hielt, fiel ihr nur ein: «Wenn es zu einem neuen Krieg käme, wäre alles wieder genau das Gleiche.» Ihr Empfinden mochte übersteigert sein, doch im Angesicht der sich in Windeseile streuenden Propaganda, gepaart mit einigermaßen bösen Absichten, spürte sie den abscheulichen Nachhall dieser dunklen Epoche.
Sie kapierte nicht, warum diese Geschichte mit Markus derart hohe Wellen schlug. Lag es an ihm? An seiner Ausstrahlung? War das die Art, wie man einer Verbindung begegnete, die nicht auffallend rational
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