Nathan der Weise
ist auf Vernunft gegründet. Die menschliche Vernunft sagt, dass es Gott gibt, dass Gott die Geschicke der Welt lenkt, dass es eine Vorsehung – eine »Vorsicht« (3077) – gibt, dass der Mensch sich »Gottes Ratschluss« (3054) fügen sollte, auch wenn er ihm schwer verständlich ist, und dass es der »Tat« (3071) des Einzelnen bedarf, wenn diese Erde entsprechend den Vorstellungen Gottes vollendet werden soll.
Diesem Glaubensbekenntnis folgend hat Nathan nach dem erlittenen Schicksalsschlag einen neuen Lebensabschnitt begonnen und als erste Tat Recha, die verwaiste Tochter christlicher Herkunft, an Kindes statt angenommen. Nathan ist weiterhin Jude – der Herkunft nach; er hat sich zugleich vom orthodoxen Judentum gelöst und ein Konzept entwickelt, nach dem Glaube und Vernunft, Vorsehung und menschliche Tugend Einklang finden.
Dass Nathan diese Weltanschauung beispielhaft vorlebt, zur Grundlage von Rechas Erziehung macht und sie erläutert, wo sich die Gelegenheit ergibt, macht ihn zum »weisen Nathan« (1799). Damit wird er in eine Position gehoben, durch die er alle anderen Personen des Dramas überragt.
Vom Autor ist er als vorbildliche Figur angelegt; beim Leser und Zuschauer erlangt er die höchste Sympathie. Er bekennt sich als gläubigen Juden, verhält sich jedoch kritisch zu dem Anspruch der Judengemeinschaft, Gottes auserwähltes Volk zu sein. Nathan ist anderen Religionen gegenüber tolerant, sucht das kritische aufklärerische Gespräch, vermeidet jede Art von Indoktrination. Er selbst hat Glaubenskrisen durchgemacht, die ihn und seinen Glauben verändert haben. Es ist verständlich, dass derjenige, der nach Wahrheit sucht, bei Nathan anfragt.
Saladin. Der Palast des Sultans ist der Mittelpunkt der politischen Macht in Jerusalem. Hier gibt Al Hafi, der Schatzmeister, Rechenschaft von seinem Tun; hierhin werden nacheinander Nathan, der Tempelherr und Recha bestellt; hier spielt die große Schluss-Szene, von der eine neue Epoche der Weltgeschichte ausgehen soll.
Sultan Saladin wird von Sorgen unterschiedlicher Art geplagt. Die Gegner, also die Tempelherren, haben »des Waffenstillstandes Ablauf kaum erwarten können« (899); sie haben vertragswidrig einen Angriff bei »Tebnin« (573) unternommen, bei dem einige Tempelritter gefangen genommen wurden. Die Tempelherren hintertreiben eine Heirat zwischen Saladins Bruder Melek und »Richards Schwester« (893), die nicht nur symbolisch zu einem politischen Ausgleich hätte führen können. Saladin steckt außerdem in Geldschwierigkeiten; er wartet auf Tributzahlungen aus Ägypten und weiß, dass auch den Vater »auf Libanon [...] Sorgen« (906) drücken, weil die Kriegskasse leer ist.
Zwei politische Entscheidungen sind in der unmittelbaren Vergangenheit getroffen worden. Zum einen hat Saladin Al-Hafi, einen Derwisch, also einen Bettelmönch, zum »Schatzmeister« (400) gemacht, was nicht nur Nathan verwundert. Zum Zweiten hat er die gefangen genommenen Tempelritter hinrichten lassen, einen von ihnen allerdings begnadigt, was einem Wunder gleichkommt.
Saladin erfüllt die Pflichten, die das Amt mit sich bringt, doch erstickt er nicht in den Tagesaufgaben. Mit seiner Schwester spielt er täglich Schach, wie es scheint, und er zahlt ihr einen Preis, wenn sie gewinnt, auch wenn das Geld knapp ist. Mit der Schwester bespricht er politische Probleme und lässt sich von ihr raten, den Juden Nathan vorzuladen und einen »Anschlag« (1144) auf sein Geld zu unternehmen.
Die Begegnung mit Nathan wird dann zum Schlüsselerlebnis für Saladin. Die Frage nach der »Wahrheit« (1867), die als Fangfrage gedacht war, wird auslösendes Moment einer Bewusstseinswandlung. In dem Augenblick, in dem er das »Märchen« (1890) von den drei Ringen versteht, erkennt er, dass die hier dargelegten Grundsätze als Fundament einer besseren Weltordnung taugen könnten, und ihm wird bewusst, dass er einige der Leitlinien schon befolgt hat, ohne das zu durchschauen.
Sultan Saladin hat auch bisher schon den Titel »Verbesserer der Welt und des Gesetzes« (1902) geführt. Ansatzweise wurde er dem Titel bereits dadurch gerecht, dass er durch äußerste Freigebigkeit versuchte, die Bettler »mit Stumpf und Stiel [...] zu vertilgen« (408). Seine Bemühungen, einen Frieden herzustellen, und die Begnadigung des Tempelherrn sind weitere anerkennenswerte »gute Taten« (2106). Indem er nun Freundschaft mit dem Juden Nathan schließt, überwindet er nicht nur alle Vorurteile, sondern
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