Nathan der Weise
er selbst, dann Recha, seine »angenommene Tochter«, und Daja, die Gesellschafterin Rechas, eine Christin. Verwunderlich erscheint, dass trotz muslimischer Oberhoheit ein christlicher Bischof in der Sonderstellung eines Patriarchen eine Rolle spielen kann. Er ist der ranghöchste Christ. Zu der Gruppe der Christen gehören weiter Daja, der Tempelherr und der Klosterbruder.
Während die Spitzenstellung des Herrschers gemäß der angesprochenen Ständeklausel unbestritten ist, verwundert es, dass dem reichen Juden Nathan der Vorrang vor dem Patriarchen, dem geistlichen Fürsten in Jerusalem, gegeben wird. Offensichtlich schätzt der Autor den Bürgerstand Nathans höher als den geistlichen Stand, zu dem in Abstufungen Bischof, Tempelherr und Klosterbruder gehören.
Daraus darf geschlossen werden, dass das Drama, obwohl es auf historisch gesicherten Fundamenten gebaut ist, kein Geschichtsdrama ist. Zur Diskussion stehen auch die Rechte und Pflichten der einzelnen Stände. Seitdem in der frühen Neuzeit das Bürgertum als Dritter Stand seine Rechte neben Adel und Geistlichkeit beansprucht, ist der Ständestaat problematisch geworden.
In Saladin, dem Alleinherrscher, im Patriarchen, dem Kirchenfürsten, und in Nathan, dem reichen Juden, dürfen also drei Standesvertreter gesehen werden, durch welche die Gesellschaftsordnung gespiegelt wird, die zur Zeit Lessings noch vorherrschte. Das Verhältnis von Herrscher und Untertan, von Herr und Knecht, von Autorität und Menge ist in der Epoche der Aufklärung Gegenstand intensiver Diskussion.
Die Hauptfiguren
Hauptperson und Titelfigur des Dramas ist Nathan. Bei ihm laufen die Handlungsstränge zusammen, er verknüpft die einzelnen Fäden zu einem Ganzen.
Nathan wird zunächst als Kaufmann vorgestellt, der seinen Wohnsitz in Jerusalem hat und von dort seinen Geschäften nachgeht. Er kommt von einer erfolgreichen Geschäftsreise zurück, hat Schulden eingetrieben und bringt Waren und Geld mit. Das Volk hat sich seine Meinung gebildet; im Sultanspalast weiß man:
Den Reichen nennt es ihn
Itzt mehr als je. Die ganze Stadt erschallt,
Was er für Kostbarkeiten, was für Schätze,
Er mitgebracht. (1049 ff.)
Der erfolgreiche Kaufmann prüft sehr sorgfältig, wo er sein Geld einsetzt, und ist keineswegs bereit, die leere Staatskasse zu füllen, nur weil sein Freund Al-Hafi Schatzmeister des Sultans geworden ist. Dagegen leiht er dem Sultan bereitwillig Geld, sobald er ihm Vertrauen schenken kann.
Nathan ist in Geldsachen bedächtig, aber nicht geizig. Im Gegenteil: Seine »Güte« (38), seine »Großmut« (55), seine Bereitschaft zu »schenken« (52) werden ausdrücklich herausgestellt, damit kein falsches Vorurteil entstehen kann. Bürgerliche Tüchtigkeit und »Tugend« (36) sind in der Person Nathans eine Einheit eingegangen.
Ganz selbstverständlich spricht Nathan von »meine(r) Recha« (21, 29) und redet sie mit »Mein Kind! Mein liebes Kind!« (178) an, während der Leser und Zuschauer aus dem Personenverzeichnis weiß, dass Recha eine »angenommene Tochter« ist. Doch Nathan füllt die Vaterrolle so überzeugend aus, wie es kein leiblicher Vater besser könnte. Er ist vorbildlicher Beschützer, Erzieher und Anwalt seiner Tochter.
Ihm ist bewusst, dass er in der Gesellschaft einen schweren Stand hat: »Doch bin ich nur ein Jude« (56). Nicht nur für Daja ist das Jude-Sein ein entscheidender Makel Nathans. Auch der Tempelherr und Saladin sehen in Nathan zuerst den Juden, der im allgemeinen zu meiden ist. Der christliche Patriarch hält einen Juden, der ein »Christenkind [...] als Jüdin erzogen« (2504) hat, sogar für einen Frevler, der auf »den Scheiterhaufen« (2537) gehört. Niemand von denen, die von dem Vorurteil gegenüber Juden besetzt sind, kennt die wahre Lebens- und Glaubensgeschichte Nathans.
Nathan und seine Familie sind achtzehn Jahre zuvor Opfer eines Anschlags von Christen gewesen. Damals hatte sich seine »Frau mit sieben hoffnungsvollen Söhnen« (3041) in das Haus von Nathans Bruder geflüchtet, wo dann alle haben »verbrennen müssen« (3045). Wie Hiob im Alten Testament hat Nathan »in Asch’ und Staub vor Gott gelegen, und geweint« (3047). Er hat vorübergehend »mit Gott [...] gerechtet [...] und die Welt verwünscht« (3049). Doch dann »kam die Vernunft allmählig wieder. Sie sprach [...]: Und doch ist Gott!« (3052 f.). Der Schicksalsschlag hat Nathan nicht verzweifeln, sondern hat ihn einen neuen Glauben finden lassen.
Dieser neue Glaube
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