Nathan der Weise
bildet mit diesem eine Glaubensgemeinschaft, die die Grenzen der eigenen Religion überwindet, ohne doch die eigene Religion aufzugeben. Zusammen mit Nathan wird er den Tempelherrn auf den rechten Weg bringen und Recha vor ihren Verfolgern beschützen.
Der junge Tempelherr gehört einem der geistlichen Ritterorden an, die im Verlauf der Kreuzzugsbewegung in Europa gegründet wurden. Ihre ursprüngliche Aufgabe war, Pilger vor den Überfällen der Sarazenen zu schützen. Sehr bald griffen sie auch ins Kampfgeschehen ein und übernahmen Machtpositionen. Wie in anderen Orden üblich legten die Mitglieder ein Gelübde zu Armut, Keuschheit und Gehorsam ab. Gleichzeitig waren sie dem Ideal des christlichen Ritters verpflichtet. Seinen Namen leitet der Orden der Tempelherrn von dem Versammlungsort in Jerusalem her, der in der Nähe des alten Salomonischen Tempels lag.
Als Mitglied seines Ordens ist der junge Tempelherr zur Truppenverstärkung ins Heilige Land gekommen. Er war an den Kampfhandlungen in Tebnin beteiligt, durch die der Waffenstillstand gebrochen wurde. Als Gefangener wurde er dem Sultan vorgeführt, der ihn zur allgemeinen Überraschung begnadigte. Bei einem Gang durch die Stadt nahm er den Brand in Nathans Haus wahr und rettete Recha, die Tochter Nathans, aus den Flammen. Weiteren Kontakt zu Daja und Recha vermied er; auch vor Nathan, dem gegenüber er das bei Christen übliche Vorurteil gegen Juden hat, spielt er die Motive seiner Tat herunter:
Es ist der Tempelherren Pflicht, dem Ersten
Dem Besten beizuspringen, dessen Not
Sie sehn. (1213 ff.)
Als auferlegte, nicht als frei und eigenständig getroffene Entscheidung stellt er seine Tat hin, für die er folglich keinen Dank beanspruchen könne. Im gleichen Atemzug, d. h. im nächsten Satz, gibt er eine zusätzliche Erklärung: »Mein Leben war mir ohnedem in diesem Augenblicke lästig« (1215 f.).
Das Gespräch mit Nathan leitet auch bei ihm eine grundlegende Wandlung ein. Nathan fragt provozierend: »Sind Christ und Jude eher Christ und Jude, als Mensch?« (1310 f.) Nathan ist überzeugt, »dass alle Länder gute Menschen tragen« (1274). Damit ist der Widerstand des Tempelherrn gebrochen und spontan geht er auf Nathan zu: »Wir müssen, müssen Freunde werden« (1319). Nun ist der Tempelherr auch bereit, das Haus des Juden Nathan zu betreten.
Dort hat nun auch Recha Gelegenheit, ihrem Retter zu danken. In Rede und Gegenrede erkennen sie ihre gegenseitige Sympathie, und bald muss der Tempelherr feststellen, dass er, der Christ, das Judenmädchen liebt. Er merkt, dass er sich damit von seinem Orden abwendet, und rechtfertigt sich damit, dass er seit der Gefangennahme als »Tempelherr [...] tot« (2135 f.) sei, dass »der Kopf, den Saladin mir schenkte, [...] ein neuer sei« (2138), der vergessen dürfe, was dem alten »eingeplaudert ward« (2140), dass er folglich ein neues Leben beginnen dürfe. Er, der »in dem gelobten Lande« »der Vorurteile mehr schon abgelegt« (2132) hat, will nicht mehr den Ordensregeln folgen, sondern der Stimme der »Natur« (2181).
Während Daja alles tut, eine Heirat zwischen Recha und dem Tempelherrn zu forcieren, bittet Nathan um Bedenkzeit. Sofort entsteht bei dem Tempelherrn Misstrauen; alte Vorurteile werden wach; der verliebte Tempelherr sucht Wege, Recha auch gegen den Willen des Vaters für sich zu ertrotzen. Von Saladin zu einer besseren Einsicht gebracht, söhnt er sich mit Nathan aus, bittet drei Mal intensiv um die Hand Rechas – »Also – gebt sie mir« (3424, 3444, 3445) –, ohne ihre Lebensgeschichte untersuchen zu wollen:
Sie sei
Nun Eure Tochter, oder sei es nicht!
Sei Christin, oder Jüdin, oder keines!
Gleichviel! gleichviel! (3427)
Obwohl er diesen beispielhaften Beweis einer von Vorurteilen freien Liebe liefert, zögert Nathan immer noch; denn Nathan weiß inzwischen genauer, wer dieser Tempelherr ist.
Schon früher hat sich angekündigt, dass der Tempelherr eine bemerkenswerte Lebensgeschichte vorzuweisen hat. Saladin hatte ihn begnadigt, »weil er seiner Brüder einem, den er besonders lieb gehabt, so ähnlich sehe« (249 f.); Nathan stutzt, als er des Tempelherrn Namen – »Curd von Stauffen« (1374) – zum ersten Mal hört. Die Namen »Filnek und Stauffen« (1399) wecken Erinnerungen an frühere Bekannte. Beide Spuren müssen zurückverfolgt werden. Und dabei bestätigt sich, dass der Tempelherr tatsächlich der Sohn Assads, also der Neffe Saladins und Sittahs ist. Assad hatte als Wolf von
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