Nathan der Weise
unterschiedlich ist ihr Verhältnis zu ihren Religionen, zu den Glaubensgemeinschaften, zu den Glaubenssätzen und zu den Lehrinstanzen.
Vertreter des Judentums
Nathan, die Hauptperson des Dramas, wird im Personenverzeichnis als Jude angekündigt, stellt sich im Drama auch als »Jude« (56) vor, ist aber keineswegs der »Stockjude« (1885), den man erwartet hat. Zu Glaubensbrüdern oder zu einer Glaubensgemeinschaft scheint er keinen Kontakt zu haben. Es gibt keine jüdisch ausgeprägte Nebenperson im Drama.
Vertreter des Islam
Sittah, des Sultans Schwester, ist eine kluge und gebildete Person. Sie hat Überblick über die politische und finanzielle Lage ihres Bruders und ist in der Lage, Ratschläge zu geben und helfend einzuspringen. Sie gibt keine Zeichen, ob und wie sie ihren Glauben praktiziert.
Al-Hafi ist als Derwisch Mitglied eines mohammedanischen Bettelordens, wie sie sich seit dem 8. Jahrhundert in Vorderasien entwickelten. Derwische lebten zum Teil in Klöstern, zum Teil als Wandermönche, die um milde Gaben bettelten. Vom politischen Leben hielten sie sich fern. Al-Hafi als Schatzmeister des Sultans ist als personifizierte Ironie des Amtes anzusehen. Er fühlt sich entsprechend unwohl in der Rolle, flieht, sobald er kann, aus der Verantwortung und strebt in die Ferne. Nathan gegenüber erklärt er:
Am Ganges nur gibt’s Menschen. Hier seid Ihr
Der Einzige, der noch so würdig wäre,
Dass er am Ganges lebte. – Wollt Ihr mit? (1492 ff.)
Dass er sich der gegebenen Gesellschaft entzieht, ist ebenso charakteristisch wie die Tatsache, dass er vor allen andern den Juden Nathan für würdig hält, in die Gemeinschaft wahrer Menschen aufgenommen zu werden.
Vertreter des Christentums
Daja ist als Ehefrau eines Soldaten »in Kaiser Friedrichs Heere« (758) nach Palästina gekommen. Ihr Mann ist zusammen mit Kaiser Barbarossa im Fluss Saleph ertrunken; sie hat, obwohl Christin, eine Stelle als Gesellschafterin Rechas im Haus des Juden Nathan angenommen.
Sie weiß sich Nathan verpflichtet, der sie schätzt und reich beschenkt; und sie kümmert sich liebevoll um Recha. Hauptsächlich definiert sie sich aber als Christin, die von der allein selig machenden Kraft ihres Glaubens überzeugt ist. Daher plagt sie ihr Gewissen, dass sie Recha, von der sie weiß, dass sie christlich getauft wurde, nach Anweisung Nathans als »Judenmädchen zu erziehn« (756) hat.
Insgeheim versucht sie ihren Auftrag zu unterlaufen und Recha in die Gedankenwelt der Christen einzuführen, indem sie die Rettung Rechas als »Wunder« (79), als von einem »Engel« (145) vollbracht, erklärt. Eine Heirat Rechas mit dem Tempelherrn würde sie sehr begrüßen. Sie würde akzeptieren, dass der Tempelherr seine Gelübde brechen müsste, wenn nur Recha für das Christentum gerettet würde.
Daja ist eine gutmütige, liebevolle, aber bornierte Frau. Sie ist naiv, unkritisch und unbelehrbar. Sie meint es gut, handelt aber verwerflich. Recha fasst die Charakterisierung in einem Oxymoron zusammen, wenn sie ihre Gesellschafterin als die »gute böse Daja« (3572) beschreibt.
Auch der Klosterbruder ist vor mehr als achtzehn Jahren als »Reitknecht« (2971) nach Palästina gekommen. Er hat einst das verwaiste Töchterchen seines Herrn, nämlich Recha, Nathan übergeben, um es vor dem Tod zu retten.
Ihm war bewusst, aber gleichgültig, dass er das Kind einem Juden übergab; denn, wie er sagt, »Kinder brauchen Liebe, [...] mehr als Christentum« (3013). Und da »das ganze Christentum aufs Judentum gebaut« (3020) ist, kann er dem Konfessionsstreit ohnehin nicht so viel Gewicht beimessen.
So wird auch verständlich, dass er sich aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen hat und eine Einsiedelei bezog, aus der er durch »arabisch Raubgesindel« (2937) verschleppt wurde. Er sucht nun durch Vermittlung »ein ander Plätzchen [...], allwo ich meinem Gott in Einsamkeit bis an mein selig Ende dienen könne« (2942). Der Patriarch spannt jedoch zwischenzeitlich den Klosterbruder in Dienste ein, die diesem in keiner Weise gefallen.
Einerseits weiß der Klosterbruder, dass es zu seinem Stand gehört zu »gehorchen [...] ohne viel zu klügeln« (559 f.). Andererseits distanziert er sich inhaltlich von den Aufträgen, die er formal korrekt erfüllt. So richtet er dem Tempelherrn die Aufträge des Patriarchen aus, die darin gipfeln, dem Sultan »den Garaus [...] zu machen« (671). Später hat er Nathan zu überwachen und auszuspionieren, ob der »Jude [...]
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