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Nathan der Weise

Nathan der Weise

Titel: Nathan der Weise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Textausgabe + Lektüreschlüssel
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ein Christenkind als seine Tochter sich erzöge« (2655). In beiden Fällen signalisiert er den Betroffenen, dass er eher auf ihrer Seite als auf der Seite des Auftraggebers steht.
    Der Klosterbruder ist ein grundehrlicher, etwas einfältiger Mensch, der ein natürliches Empfinden hat, aber den offenen Konflikt mit den Autoritäten scheut. Er dürfte als Einsiedler am Berge Tabor ähnlich in sich zufrieden leben wie der Derwisch am Ganges. Beide Figuren haben vergleichbare Züge und vergleichbare – komische – Funktionen im Drama.
    Der Patriarch von Jerusalem ist die höchste christliche Instanz, die das Drama vorstellt, und zugleich die Person, die sich die größte Verachtung zuzieht. In einer einzigen Szene (IV,2) tritt der Kirchenfürst persönlich auf, über sein Denken und Handeln hat der Klosterbruder aber schon vorher einiges mitgeteilt.
    Majestätisch – »mit allem geistlichen Pomp« (nach 2453) – erscheint der Würdenträger, behandelt die Versammelten von oben herab und redet den Tempelherrn wie einen kleinen Jungen an. Der Bitte des Tempelherrn um einen »Rat« (2474) kommt er gern nach – allerdings mit der Auflage, dass dieser »anzunehmen« (2475) sei, dass er nicht kritisch geprüft, nicht als Vorschlag erörtert werde. Der angebliche Rat ist vielmehr als die unbedingte Anweisung einer höchsten Autorität anzusehen, also kein Rat, sondern ein Befehl.
    Autoritär, machtbewusst, durchsetzungswillig ist dieser Geistliche, der am liebsten die gesamte judikative Gewalt an sich ziehen möchte, um, auf »päpstliches und kaiserliches Recht« (2532) gestützt, »Strafe zu vollziehn« (2532), wenn er einem »Frevel« (2533) oder einer »Lastertat« (2534) auf die Spur kommt. Ein christlich getauftes Kind in einem jüdisch orientierten Haus aufzuziehen ist für ihn »Apostasie« (2537), also Verführung zur öffentlichen Lossagung vom rechten Glauben und daher strafbar.
    Dass er allerdings gleich die Todesstrafe ins Auge fasst – »Tut nichts! Der Jude wird verbrannt« (2552) – macht ihn lächerlich. Spätestens an dieser Stelle muss der Zuschauer oder Leser merken, dass die hier vorgestellte Figur eine Karikatur, dass die Szene eine Satire ist.
    Bloßgestellt wird der Patriarch in seinem Diskussionsverhalten. Er erwartet nicht nur, dass man ihm »blindlings« (2476) folgt, sondern auch, »dass man die »Vernunft« (2478) ausschaltet, wo angeblich »Gott« (2480) »auf irgendeine ganz besondere Weise« (2485) zu den Menschen spricht. Wann das der Fall ist, entscheidet offensichtlich die Kirche. Nach diesen Vorbemerkungen wird das eigentliche Gesprach eröffnet. Der Tempelherr trägt sein Problem vor: Wie ist mit einem Juden zu verfahren, der »ein Christenkind« »zu allem Guten auferzogen«, aber »als Jüdin erzogen« (2497–2506) habe? Dem Patriarchen ist nicht an dem Problem, sondern an dem Fall gelegen. Er möchte nicht erörtern, ob das gut oder schlecht, gerecht oder ungerecht, für das Kind nützlich ist oder nicht. Für ihn steht das Urteil fest, sofern »der Fall ein Faktum« (2527) ist; dann nämlich sollte der Jude verbrannt werden. An einer vorurteilslosen, von allen Geltungsansprüchen freien Diskussion ist er nicht interessiert: Falls es nur um »eine Hypothes’« (2511) geht, »verlohnt es sich der Mühe nicht« (2520), einen Diskurs als »Spiel des Witzes« (2520) zu führen. Damit widersetzt sich der Patriarch grundsätzlich der in der Aufklärung entdeckten Methode der Wahrheitsfindung.
    Nicht auf Vernunft und Diskursfähigkeit hat der Mensch nach der Vorstellung des Patriarchen zu bauen, sondern auf Glauben. Für ihn ist es eine unerträgliche Vorstellung, »ein Kind ohn allen Glauben« (2561) erwachsen werden zu lassen. Dabei denkt er nicht nur an die verpasste ewige Seligkeit, sondern auch an die Folgen für den Staat: »Alle bürgerliche Bande sind aufgelöset, sind zerrissen, wenn der Mensch nichts glauben darf« (2580 ff.). Der Patriarch baut auf die enge Verbindung von Staat und Kirche. Er glaubt sich beim Sultan Hilfe holen zu können, um den Juden, von dem die Rede war, aufzuspüren und zu bestrafen.
    In seinem Denken und Handeln stellt der Patriarch das Gegenbild zu Nathan, dem Weisen und Toleranten, dar. Der Patriarch ist auf Indoktrination aus, hält einen »Sermon« (2584) und erstickt im Keim eine offene und kritische Diskussion. Er ist orthodox, insofern er starren Lehrsätzen absolute Gültigkeit zuerkennt, und Fundamentalist, insofern er rigoros und voll

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