Nathan der Weise
des Stücks zusammenzuführen.
Das eigentliche Geschehen des Dramas ist jenes, das im Innern der Personen abläuft und das nach außen in einzelnen Taten sichtbar wird. Auch hier geht die Bewegung von Nathan aus. Er ist als erster über die »Vernunft« (3052) zu einem neuen Verständnis von Gott und den Religionen gelangt. Er, der als Jude über das orthodoxe Judentum hinausgewachsen ist, lebt dieses Bekenntnis seiner Tochter Recha vor, trägt es dem christlichen Tempelherrn direkt und überzeugend vor – Tempelherr: »Wir müssen, müssen Freunde werden« (1319) – und legt es als große Parabel dem moslemischen Sultan dar, der mit der Bitte »sei mein Freund« (2060) ähnlich reagiert wie der Tempelherr.
Saladin spricht die zentrale Frage des Stücks aus, wenn er Nathan fragt:
Was für ein Glaube, was für ein Gesetz
Hat dir am meisten eingeleuchtet? (1840 f.)
Die Antwort Nathans, dargeboten als »Märchen« (1890), genauer als Parabel, bildet den Mittelpunkt des Dramas (III,5–7). Die Grundüberlegungen werden ergänzt durch die Religionsgespräche, die Nathan mit Recha (I,2) und mit dem Tempelherrn führt (II,5). Wichtiger aber als Glaubensbekenntnisse sind die Zeugnisse durch die Tat. Als Taten praktizierten Gottesglaubens dürfen die Rettung des verwaisten Christenkindes durch Nathan und den Reitknecht (2971 ff.), die Begnadigung des Tempelherrn durch Saladin (87 ff.) und die Rettung Rechas aus dem brennenden Haus (81 ff.) angesehen werden. Alle diese Taten erwachsen einer grundlegenden »Tugend« (36), der sich die Hauptpersonen verpflichtet fühlen.
Die zentrale Frage wird genau in der Mitte des Stückes gestellt und dann – unter Verwendung der Ringparabel – erörtert. Die praktischen Konsequenzen für Menschen, die sich dieser Frage ernsthaft stellen, werden in Handlungssträngen sichtbar, die sich über das ganze Drama ziehen. Vom Ende her gesehen, erkennt man, wie das tugendhafte Handeln mit dem Walten einer höheren Vorsehung übereinstimmt.
Die Struktur des Dramas
6. Interpretation
Die Streitfrage: Text und Kontext
Es besteht eine allgemeine Übereinstimmung darüber, dass ein literarischer Text für den, der über die sprachlichen Voraussetzungen verfügt, aus sich heraus verständlich sein muss. Trotzdem versteht man mehr, wenn man die Bedingungen kennt, unter denen er entstanden ist. Das gilt in besonderer Weise für Lessings Drama
Nathan der Weise
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Lessing stammte aus einem protestantischen Pfarrhaus, hatte einige Semester Theologie studiert und sich auch weiterhin mit theologischen Fragen beschäftigt, als er das Studienfach wechselte und »der theologischen Beamtenlaufbahn auswich« 9 . Als aufklärerischer Schriftsteller war er gezwungen, sich mit theologischen Fragen zu befassen, denn in einer Zeit, in der Kirche und Staat in engster Beziehung standen, in der weltliche und geistliche Obrigkeiten sich gegenseitig stützten und sich den Untertanen gegenüber hoch überlegen gaben, wurde die Bevormundung durch die Kirche als problematischer angesehen als die durch den Staat. Da beamtete Theologen in den meisten Fällen die staatliche Zensur ausübten, verfügten sie über eine Machtstellung, von der aus sie Gelehrte und Literaten mundtot machen konnten. Es war nur konsequent, die Berechtigung dieser Machtstellung kritisch zu erörtern und die Grundlagen eines solchen Anspruchs zu hinterfragen. Weder die Kirche noch der Staat konnten weiterhin bedingungslosen Gehorsam von Untertanen erwarten; weder geistliche Führer noch Regenten konnten sich weiterhin als Autoritäten gebärden, die fraglos anerkannt wurden. Gefordert wurde eine von allen vernünftigen Menschen annehmbare Legitimation.
Die Schriften des Alten und Neuen Testaments gelten nicht nur als Grundlage der christlichen Religion, sie sind auch das Fundament, auf dem die christlichen Kirchen errichtet sind und auf dem ihre Lehr- und Glaubenssätze aufbauen. Indem die Aufklärer für das Recht der Menschen eintraten, sich ihres eigenen »Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen« 10 , gingen sie gegen den Alleinvertretungsanspruch der Theologen in biblischen Fragen an und forderten eine genaue und öffentlich zu führende Diskussion auch der biblischen Texte.
Lessing, der seit 1770 Herzoglicher Bibliothekar in Wolfenbüttel war, hatte sich unter anderem die Aufgabe gestellt, Texte – vor allem Handschriften – aus der Bibliothek zu veröffentlichen und damit auf die Bedeutung der Institution hinzuweisen. Es war
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