Nathan der Weise
»Eifer« (2592) nach diesen Lehrsätzen Todesurteile auszusprechen bereit ist.
Auch für den Patriarchen fand Lessing in seinen Quellen eine Vorlage in der Gestalt des Patriarchen Heraklius, der alles andere als ein vorbildlicher Geistlicher war. Für Lessings Zeitgenossen war jedoch deutlich, dass der Autor mit der Figur des Patriarchen indirekt den Hamburger Hauptpastor Goeze angriff, seinen Hauptkontrahenten im sogenannten Fragmentenstreit (vgl. Kap. 6 ). Lessing deckt dessen Vorstellung von Glaube, Vernunft, Kritik und Diskurs auf und lenkt den Blick auf die enge Verbindung von Kirche und Staat in seiner Zeit. In dem Patriarchen ist die Position verkörpert, die den genauen Gegensatz der Vorstellungen enthält, die Lessing von Religion, Kirche, Staat und Politik hat.
Goeze hatte erreicht, dass sich Lessing »in Religionssachen [...] ohne vorherige Genehmigung des Fürstlichen Geheimen Ministerii« 5 nicht mehr äußern durfte. Nun lässt Lessing seinen Patriarchen dem Tempelherrn gegenüber sagen:
[...] ist der vorgetragne Fall nur so
Ein Spiel des Witzes: so verlohnt es sich
Der Mühe nicht, im Ernst ihn durchzudenken.
Ich will den Herrn damit auf das Theater
Verwiesen haben (2519 ff.)
Goeze steht nun selbst zur Diskussion. Das Theaterpublikum wird wenig Pro und viel Contra an ihm entdecken.
4. Die Struktur des Werks
Lessing veröffentlichte sein Werk
Nathan der Weise
unter der Gattungsbezeichnung »Dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen«. Damit ordnete er es eindeutig dem literarischen Bereich zu. Er wollte sein Stück als Dichtung, nicht als theologische Streit- und Kampfschrift verstanden wissen. Vor allem wollte er verhindern, dass es in den Kompetenzbereich der Zensurbehörde geriet, die über »Gedichte« keine Verfügungsgewalt hatte.
Mit der Kennzeichnung »Dramatisches Gedicht« weicht er zugleich dem Dilemma aus, das Drama genauer als Tragödie oder als Komödie zu klassifizieren. Es ist keins von beiden: sowohl tragische wie komische Züge sind nachzuweisen. Darüber hinaus wäre zu prüfen, ob die darzustellende Handlung in jenem Sinne »dramatisch« ist, dass sie den Zuschauer gespannt das Geschehen verfolgen lässt und ihm Konflikte und tätliche Auseinandersetzungen vorführt. Fraglos gesichert ist dagegen, dass die Struktur des Textes der Bauform »Drama« insofern entspricht, als hier eine geschlossene Handlung in Dialog und Monolog so auf Rollenträger verteilt ist, dass sie zur Darstellung auf einer Bühne, zur szenischen Präsentation oder zumindest zum Sprechen mit verteilten Rollen drängt.
Die Handlung ist aufgeteilt auf fünf Akte, die ihrerseits wieder in Szenenfolgen unterschiedlicher Anzahl untergliedert sind. Der Schauplatz ist, grob benannt, die Stadt Jerusalem. Innerhalb der Stadt treffen die Personen einige Male im Haus des Nathan, einige Male im Palast des Saladin und öfter noch auf Plätzen und Straßen der Stadt zusammen. Die Handlung läuft an einem Tag des Jahres 1192 während des Waffenstillstands zur Zeit des dritten Kreuzzugs ab. Das Geschehen bleibt also insofern übersichtlich, als es die Einheit von Ort und Zeit wahrt und so eine Grundorientierung bietet.
Die Personenkonstellation
Der Blick des Zuschauers wird auf die Personen gerichtet. Spannung gewinnt das Stück durch die Personen mit unterschiedlicher Herkunft, Lebensgeschichte und Weltanschauung, die nun an einem Ort zusammengeführt und durch ein eher zufälliges Ereignis verbunden werden. Da die Geschichten der einzelnen Personen erst im Laufe des Stücks offen gelegt werden, hat es Züge eines analytischen Dramas. Da sich aber andererseits durch die Begegnung der Personen eine Entwicklung vollzieht, die am Anfang nicht absehbar ist, herrschen Elemente des synthetischen Dramas vor: Personen, die am Anfang kaum bereit sind, ein Wort miteinander zu wechseln, bilden am Ende eine harmonische Gruppe.
Nathan der Weise
ist Personen-Drama in ganz besonderem Sinne. Nathan, die Titelfigur, ist als Handlungs- und Ideenträger zweifellos Hauptperson. Er ist in allen fünf Akten präsent und tritt in 19 von insgesamt 40 Szenen auf. Er setzt als Pflegevater Rechas jene Handlungsfolge in Gang, die damit beginnt, dass er dem Tempelherrn begegnet, und die mit der Zusammenführung der Geschwister endet. Als reicher Kaufmann wird er zum Sultan geladen und ist dadurch an jenem Handlungsstrang beteiligt, in dem es um die Geldgeschäfte Saladins geht. Beide Handlungsfolgen sind äußerer Anlass dafür, die Hauptpersonen
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