Nathaniels Seele
Und doch lag ein Schatten über seinen Augen. Josephine betrachtete ihn und fühlte sich wie eine Auserwählte. Er trug eine schwarze Wildlederhose, über der sein obligatorischer Gürtel hing, ein eng anliegendes schwarzes Hemd und einen dieser traditionellen Brustpanzer aus waagerecht angeordneten Knochen, der mit zwei Silberplättchen und kupferfarben schillernden Federn verziert war. Sein Haar fiel offen herab,bis auf zwei geflochtene Zöpfe, die jeweils von seinen Schläfen ausgingen und mit Lederbändern umwickelt waren. Das Licht zweier Kerzen, die auf dem Tisch brannten, ließ seine Haut wie bronzene Seide schimmern. Nathaniels Erscheinung war eine perfekte Mischung aus Tradition und Moderne. Ohne Zweifel wusste er, welche Wirkung sein Auftritt erzielte, denn das Lächeln troff vor Selbstzufriedenheit.
Er strich dem Hund, der vor ihm hockte, mit gekrümmtem Zeigefinger über die Schnauze. „Gut geschlafen?“
Josephine nickte. „Wie ein Stein.“
„Jetzt wirst du vermutlich danach gieren, endlich die Wahrheit zu erfahren.“ Nathaniel blickte zur Seite. Kupferfarbenes Abendlicht legte sich auf sein Gesicht und verlieh ihm den wehmütigen Ausdruck eines Mannes, der alten Zeiten nachtrauerte. „Du willst wissen, was ich bin.“
Wieder nickte sie.
„Hab noch ein wenig Geduld.“ Er stand auf, hob etwas vom Boden auf und reichte es ihr. Es waren ihre Kleider. „Draußen hat das Fest begonnen. Sie warten schon auf uns.“
„Welches Fest?“
„Ein Fest ohne besonderen Anlass. Wir lieben so was. Komm, du musst keine Angst haben. Die Zeiten, als wir am Feuer die rohen Lebern unserer Feinde gegessen haben, sind vorbei.“
„Ich will es jetzt wissen.“ Josephine starrte auf ihre Kleider hinab, als sähe sie dieselben zum ersten Mal. Alles war anders. Alles hatte sich auf subtile Weise und doch vollkommen verändert.
„Heute Nacht wirst du alles erfahren“, sagte Nathaniel. „Ich werde ganz dir gehören. Mit meinem Körper und meiner Seele. Zelebriere diese Nacht, Tacincala, als wäre sie deine erste und deine letzte. Feiere mit mir, und dann hör dir meine Geschichtean.“
Rohe Lebern gab es keine, wohl aber ganze, über dem Feuer gebratene Hirsche, zwei Dutzend bemalte Tipis, die im Schein der Flammen schimmerten, Gesang, Geschichtenerzähler und Trommler, die bereits lange vor Mitternacht den Eindruck erweckten, in anderen Sphären zu schweben. Josephine war von dem Treiben derart beeindruckt, dass sie lange Zeit nur dasaß und beobachtete. Nathaniel saß an ihrer Seite, sprach in seiner Muttersprache mit Jeremy und genoss einen Eintopf. Angesichts des Mienenspiels des Jungen wurde Josephine klar, das Nathaniel ihm soeben von ihrer gemeinsamen Nacht erzählte. Es störte sie nicht. Jeremy hatte zweifellos so manches gehört, und dass sie die Nacht nicht mit Philosophie verbracht hatten, war ihm ohnehin klar. Unter diesen Menschen schien es keine Scham zu geben, und vielleicht war diese natürliche Unbeschwertheit auf sie übergesprungen.
Nur wenige Mitglieder des Stammes ehrten die alten Zeiten und trugen traditionelle Kleidung. Ein Großteil dieser Nostalgiker bildete einen versunkenen Reigen um das größte Feuer. Sie ließen ihre Fransen, Stachelschweinborsten, Pferdeschweife und Federn in einem wilden Kaleidoskop tanzen und wirbelten mit stampfenden Füßen Staub auf. Dieser Reigen war kein Vergleich zu jenen Tänzen, die sie im Fernsehen gesehen hatte. Kunterbunte Pow Wows, abgehalten in Basketballhallen oder auf Sportplätzen. Männer und Frauen mit Nummerschildern um den Hals, die in meist künstlich wirkenden Kostümen wetteiferten.
Josephine bewunderte prächtige Stickereien, funkelnde Silberplatten und Schmuck, der den Eindruck von Authentizität erweckte. Lachende Blicke streiften sie, freundliche Hände berührten ihre Schultern, voller Zurückhaltung und doch unverhohlen neugierig.
Die meisten Männer und Frauen hatten wie Nathaniel Altes mit Modernem gemischt, kombinierten Jeans mit traditionellen Brustplatten oder Coca-Cola-T-Shirts mit Federn im Haar. Andere saßen in moderner Kleidung um die Feuer und hatten Pfeifen gegen Zigaretten getauscht. Manche Jüngere trugen Kopfhörer in den Ohren, spielten mit ihren Handys und taten gelangweilt.
Josephine beobachtete eine traditionell gekleidete Frau beim Flötenspiel. Der Mann neben ihr sang mit weicher Stimme ein Lied, in dessen Tönen etwas Melancholisches lag.
„Wovon singt er?“, wollte sie wissen und schluckte das Fleisch
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