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Nathaniels Seele

Titel: Nathaniels Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Strauß
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ihrem Sohn.
    Hin und wieder nahm die Mutter ihr Kind auf den Arm und wirbelte es übermütig herum. Manchmal pflückte der Junge eine Blume, um sie der Frau zu geben. Die beiden schienen keine Hast oder Eile zu kennen. Gemächlich wanderten sie durch den Frühlingswald, sprachen miteinander in einem melodischen Dialekt, den Josephine nicht kannte, und schwebten auf den Wolken ihres Glücks. Nach einer Weile schwenkten die beiden nach rechts und ließen sich am Ufer des Baches nieder. Sie tranken ein paar Handvoll des klaren Nasses, bespritzten sich gegenseitig, formten aus Schlamm Kügelchen und bewarfen sich kichernd damit. Irgendwann sprang das Kind glucksend auf und stürmte zu einigen Büschen, um an deren weißen Blüten zu schnuppern. Die Frau verharrte still. Sie schloss die Augen, hielt ihr Gesicht in den Sonnenschein und schien zu träumen.
    Alles wirkte vollkommen. Bis die Fremde ihre Augen öffnete. Denn jetzt war der Blick von Sorge verdunkelt. Josephine spürte die Angst der Frau, als sei es ihre eigene. Sie sickerte in ihren Geist wie ein eisiger Schatten. Wovor fürchtete sie sich? Worum sorgte sie sich an einem solch wunderbaren Tag, an dem alles vollkommen war?
    Als die Frau sich erhob, gesellte sich Angst zu der Sorge in ihrem Gesicht. Sie sog Luft durch die Nase ein, wirkte wie ein scheues, witterndes Tier. Irgendetwas beunruhigte die Indianerin. Sie trat zu einem Baum, der nahe dem Fluss stand, und betastete die Furchen in seiner Rinde. Ein großes Tier hatte daran seine Krallen gewetzt.
    „Cuncana“, rief sie. „Hakamya upo.“
    Flink wie ein Eichhorn kam das Kind herbeigeeilt. Die Frau hob es auf ihre Arme und rannte den Weg zurück, den sie gekommen waren, doch als sie eine Wiese aus Schlüsselblumen durchquerten, erhob sich ein Bär hinter einer umgestürzten Pappel.
    Die Indianerin schob den Jungen hinter sich und zückte ein Messer. Das Tier kam näher. Behäbig trottend, die Nase witternd erhoben. Es war riesig, an den Schultern so hoch, dass es der Frau bis zur Brust gereicht hätte. Noch lag keine Wut im Verhalten des Bären. Während die Frau langsam zurückwich, beschleunigte er seinen Gang, kam näher, immer näher, bis er keine zwei Schritte vor der Indianerin verharrte. Beseelt von unerschütterlichem Mut blieb sie stehen und rührte sich nicht. Kein Finger zuckte. Ihre Gestalt und die ihres Sohnes waren unbeweglich wie Statuen.
    Im Hintergrund sah Josephine plötzlich eine alte Frau auftauchen. Gebeugt und mager lehnte sie sich an einen Baumstamm, so unbeteiligt, als berühre sie das Geschehen nicht im Geringsten.
    Der Bär brüllte und richtete sich auf. Er wuchs über die Indianerin hinaus wie ein Berg aus Muskeln und Fell. Ihr Messer zerschnitt die zuschlagende Pranke und bohrte sich in die Seite des Grizzlys, doch ehe die Frau ihre Waffe herausziehen und erneut zustechen konnte, zerrissen fünf fingerlange Krallen ihr Gesicht. Fleisch klaffte auf wie eine überreife Frucht. Der Bär schleuderte sie zu Boden. Er wirbelte den Körper herum, bäumte sich auf und rammte seine Vorderpranken mit brachialer Wut in ihren Brustkorb. Wieder und wieder, bis sein Opfer sich in ein blutiges Bündel verwandelt hatte. Die blindwütige Brutalität des Tötens fraß sich wie Säure in Josephines Seele. Sie hörte den Bären brüllen. Sie hörte das feuchte Reißen, als er seine blutbesudelten Krallen erneut in das Fleisch schlug.
    „Petala!“, rief eine Stimme wie von fern. Immer wieder. „Petala! Cuncana!“
    Die Szene des Traumes wechselte. Ein Mann rannte durch den Wald. Seine Schritte waren federnd und weich. Er rannte, als ginge es um sein Leben, während der Wind an seinem langen, pechschwarzen Haar zerrte. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, nur einen bronzenen Rücken, kraftvolle Glieder und zwei Federn, die in einem Silberplättchen steckten und an seinem Hinterkopf befestigt waren. Als er den Ort des Todes erreichte, fiel er auf die Knie und zog den zerstörten Leichnam der Frau in seine Arme. Er rief ihren Namen so lange, bis seine Stimme rau wurde und brach. Irgendwann stand er taumelnd auf, ging zum Gebüsch und zog den Körper des Kindes hervor. Behutsam trug er es zur Toten, legte es neben sie und sank nieder. Monoton bewegte sich sein Oberkörper vor und zurück, während die Zeit verstrich und Dämmerung sich über das Land legte. Es wurde Nacht, und noch immer kauerte der Mann über den beiden Körpern. Weinend, zitternd … eingefroren im Lauf der Zeit. Über ihm

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