Nathaniels Seele
glommen gleichgültig die Sterne, unberührt von allem Leid, das unter ihrem Licht geschah.
Josephine erwachte so abrupt, dass die Wirklichkeit einem Schlag glich. Die Stimme klang in ihrem Kopf nach, ein sich entfernendesEcho, in dem aller Schmerz lag, den ein Mensch empfinden kann. Qual bohrte sich wie eine Klinge durch ihr Herz und riss Wunden, die nicht die ihren waren.
Schwitzend schlug sie die Decke zurück und tastete nach ihrem Gesicht, als fürchtete sie, dort klaffende Wunden vorfinden. Josephine sackte zur Seite. Sie umklammerte ihr Kissen, trocknete daran ihre Tränen und wartete, dass die Qual des Traumes von ihr wich. Er hatte sich anders angefühlt. Anders als jeder Traum zuvor. Realer, detaillierter. Jede Emotion so niederschmetternd, als hätte sie es selbst erlebt.
Die alte Frau … warum hatte sie auf diese Weise dort gestanden? Abwartend, lauernd, als hätte sie nur darauf gewartet, dem Tod der Indianerin und ihres Sohnes beizuwohnen.
Irgendwann, als der Schrecken verebbte, ging Josephine zum Fenster und öffnete es. Die Tannen des Waldes wiegten sich wie ein Reigen düsterer Tänzer. Eines der hier häufigen Sommergewitter zog auf. Sie beobachtete, wie die Sterne von einer schwarzen Wand verschluckt wurden. Das Mondlicht erlosch. Dann begann es, zu regnen. Schwere Tropfen fielen auf die ausgedörrte Erde, vermischten sich mit Staub und erfüllten die Luft mit einem fruchtbaren, herben Aroma. Josephine spürte den Wind an ihren Haaren reißen. Er ließ die Vorhänge flattern und fegte Notizblock und Stift vom Nachttisch, doch sie schloss das Fenster nicht.
Eine weitere Böe wehte ihr dicke, warme Tropfen ins Gesicht. Donner grollte über den Bergen, erinnernd an ein Ungeheuer im Todeskampf. Vor zwei Jahren war auf der Südweide der Blitz in einen Ahorn eingeschlagen und hatte drei Bullen getötet. Wie fühlte es sich an, von solch einer Urgewalt getroffen zu werden? Tat es weh? Zerschmolz alles in blendender, strahlender Helligkeit? Warum kamen ihr überhaupt solche Gedanken?
Als Josephine sich an den Fensterrahmen lehnte und die Berührungen des Windes genoss, öffnete sich das Tor des Pferdestalls. Ein Lichtkegel durchschnitt die Finsternis. Sie sah eine große helle Gestalt, die daraus auftauchte. Ein menschlicher Schatten ging ihr voraus.
„Nathaniel?“, flüsterte sie. „Was in aller Welt machst du da?“
Obwohl seine Gestalt und die des Pferdes vom strömenden Regen nahezu verschluckt wurden, wusste sie, dass es niemand sonst sein konnte. Er wollte das Tier nicht allen Ernstes bei solch einem Unwetter auf die Koppel lassen? Ihr Instinkt befahl ihr, loszustürmen, doch sie unterdrückte diesen Drang. Stattdessen beobachtete sie nur. In aller Seelenruhe brachte Nathaniel das Pferd auf die Wiese, offenbar ohne Führstrick. Soweit sie erkennen konnte, hatte er dem Tier selbst das Halfter abgenommen. Dann, als er das Gatter hinter sich geschlossen hatte, standen sich die beiden bewegungslos gegenüber. Fahler Lampenschein überhauchte ihre Silhouetten mit feinen Reflexen, als wolle das Licht der ohnehin unwirklichen Szenerie noch einen zusätzlichen Hauch Magie verleihen.
Träumte sie noch immer? Hier waren sie, zwei Figuren in einer Wirklichkeit, die kein anderer wahrnehmen konnte. Sie selbst, aufgelöst vom Nachhall eines furchtbaren Traumes. Nathaniel dort draußen, versunken in einer Szene, die sie zutiefst berührte, sich aber ihrem Begreifen entzog. Wut wäre sinnvoll gewesen. Denn was er da tat, war gefährlich und rücksichtslos. Doch die Emotion des Zorns schien aus ihr getilgt zu sein.
Sie musste zu ihm. Der Drang besaß etwas Existenzielles, geschürt durch das Gefühl, dieser Traum könnte enden, ohne dass sie seinen Sinn erkannt hatte. Nur mühsam war die Haustür zu öffnen, denn der Sturmwind drückte dagegen. Regen klatschte Josephine ins Gesicht. Das warme Holz unter ihren Füßen dampfte. Morgenmantel und Haare waren längst durchgeweicht, als sie sich an den Zaun stellte. Und was jetzt?
Nathaniel stand keine fünf Schritte entfernt. Seine Stirn war gegen die des Cremellos gelehnt. Er spielte sein gefährliches Spiel ausgerechnet mit dem Pferd, in das sie ihre größte Hoffnung legte. Sie wusste, dass die Natur des Tieres rebellisch und aufbrausend war, doch jetzt es war wie ausgewechselt. Die elfenbeinfarbenen Flanken bebten, als Nathaniels Hand über den Hals des Hengstes glitt. Sanft teilte er die Mähne mit seinen Fingern, um schließlich hinunter zur Brust zu
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