Nathaniels Seele
davon steckte ihr die Müdigkeit bereits in den Knochen.
„Ich ziehe mich zurück. Gute Nacht. Und danke, dass du … das für mich tust. Ich meine, für uns.“ Josephine atmete tief durch, erwiderte Nathaniels Lächeln und zog die Tür hinter sich zu. Ihre Nervosität war kindisch. Zahllose Male hatten sie Helfer auf der Farm einquartiert, und diesmal war es nichts anderes. Sie war seit Langem kein Backfisch mehr, der sich in Wohlgefallen auflöste, nur weil er sich einem gut aussehenden Kerl gegenübersah. Nein, sie war eine erwachsene Frau, erfahren und in jeglicher Hinsicht gefestigt. Es wurde Zeit, dieser Tatsache zu gedenken.
Jede Holzstufe, die Josephine betrat, produzierte ihren eigenen Knarzlaut. Der Duft nach Pferd und Heu beruhigte ihren wirren Geist. Sie mochte die staubige Dunkelheit des Pferdestalles. War Daniel auf Reisen gewesen, hatte sie gern in diesen Wohnungen übernachtet, um in der Dunkelheit die Stallluft einzuatmen und das Schnaufen der Tiere zu hören. Seit viereinhalb Jahren hatte sie das nicht mehr getan.
„Hallo, Max“, raunte Josephine dem Buckskin zu, der neugierig den Kopf aus seiner Box streckte. „Pass gut auf unseren neuen Wohltäter auf. Und wenn er seltsame Dinge tut, dann erzähl mir davon, hörst du?“
Max schnaufte bestätigend. Sie kraulte ihm ausgiebig das Kinn, bevor sie den Stall verließ und sich anschickte, Ruhe zu finden. Friedvoll dämmerte das Farmhaus unter dem Licht des Mondes dahin. In den anderen Wohnungen über dem Stall herrschte Dunkelheit, sodass sie davon ausgehen konnte, dass niemand Nathaniels Ankunft bemerkt hatte. Bei Jacob war sich Josephine nicht ganz sicher. Er besaß ein nahezu untrügliches Gespür für Neuigkeiten, und das Bild eines alten Mannes, der neugierig hinter der Gardine seiner Wohnung steht, war allzu präsent in ihrem Kopf. Sie hatte seine ermunternden Floskeln schon jetzt im Ohr. „Versuch es. Trau dich. Ich sehe doch, dass ihr beide gut zusammenpasst. Was spricht dagegen? Komm schon, Kleines. Gib dir einen Ruck. Oder soll ich nachhelfen?“
Als Josephine die Veranda erreichte, knallte es hinter ihr dumpf. Sie fuhr herum, nach der Quelle des Lärms suchend. Nathaniel stand an seinem Jeep, schulterte eine Art Seesack und rückte ihn schwungvoll zurecht. Ohne es bewusst entschieden zu haben, verharrte sie still. Ihr Bann löste sich erst, als er im Stall verschwand und das Tor sich hinter ihm schloss.
„Jetzt reiß dich zusammen“, schalt Josephine sich. „Katapultieren wir uns jetzt zurück in die Pubertät oder was?“
Müde schlurfte sie in die Küche, füllte ein Glas mit Milch und lauschte dem Ticken der Uhr. Ihre Gedanken schweiften ab zu Nathaniels Bogen. Zu gern hätte sie gesehen, wie er mit diesem prächtigen Relikt jagte. Die Phase, in der sie eine solche Waffe hatte beherrschen wollen, war längst vorbei. Dennoch war ihre Bewunderung für jeden, der diese Fertigkeit besaß, nach wie vor ungetrübt. Es besaß etwas Elegantes, in dem sich Kraft und Anmut in Perfektion vereinten. Möglicherweise würde Nathaniel sich überreden lassen, ihr Unterrichtsstunden angedeihen zu lassen. Josephine zweifelte zwar an seiner Bereitschaft, doch die kleine Welle Sympathie, die sie eben ausgetauscht hatten, erfüllte sie mit einem Hauch Optimismus.
Sonne durchflutete die Wälder. Birken, Pappeln und Eichen flüsterten im Wind, überspannt von einem makellos blauen Himmel. Schmetterlinge taumelten wie trunken über Wildblumen, Insekten summten schläfrig und ein Bach plätscherte friedvoll über Steine und Kies. Der Frühling war in das Land gezogen. In den lichten Wäldern blühten Schlüsselblumen, Veilchen und Krokusse. Das Gras spross saftig und hoch. Eine Frau in einem schmucklosen, langen Wildlederkleid und ein Kind, das nicht mehr trug als ein weiches Tuch aus Leder um seine Hüften, wanderten durch den Sonnenschein.
Josephine sah all das und wusste, dass sie für alle anderen Lebewesen unsichtbar war. Einem Geist gleich schwebte sie über der Landschaft, mal weit über den Bäumen, mal so dicht über dem Gras, dass die sich neigenden Halme ihre Zehen kitzelten. Angesichts der Frau befiel sie eine schmerzhafte Bewunderung, denn dieses Geschöpf war wunderschön. Sie sah den Glanz ihres Haares und die anmutigen Bewegungen ihrer schlanken Gestalt, die sich unter dem Leder abzeichneten. Das Lachen der Fremden erfreute ihr Herz, doch noch schöner klang die helle Stimme des Kindes. Pure Lebensfreude entströmte der Frau und
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