Nathaniels Seele
gleiten. Dort verharrten seine Finger, drückten sich in die Haut hinein und hielten still.
Josephines Herz klopfte. Während der Regen auf sie hinabprasselte, wagte sie kaum zu atmen, aus Angst, diese wunderbare Szene zu zerstören. Der schwelende Zorn des Pferdes war verschwunden. Seine sonst angespannte, verkrampfte Gestalt lockerte sich. Kreisförmig bewegten sich Nathaniels Hände über das nasse Fell des Tieres, massierten Muskeln, strichen über empfindsame Stellen, die dem Cremello ein wohliges Schaudern entlockten.
Josephines Fantasie malte Bilder, die sie schwindeln ließen. Es war vergeblich, sich davor zu verschließen. Die Art, wie er das Tier streichelte, sanft und doch unnachgiebig, vollkommen vertieft in das, was er tat … wie seine Finger sich in nasses, elfenbeinfarbenes Fell drückten, an den Beinen auf und ab strichen und über bebende Flanken glitten, während der Regen sich in Strömen auf ihn und das Pferd ergoss …
Josephine seufzte. Eine Spur zu laut, denn plötzlich rollte der Hengst mit den Augen, warf sich herum und stürmte davon. „Es tut mir leid.“ Ihre Worte verhallten im Rauschen, Tröpfeln und Plätschern. Es fühlte sich an, als hätte sie etwas Heiliges zerstört. Ihre Hände und Knie zitterten. „Ich hätte nicht herkommen sollen.“
„Warum nicht?“
Gemächlichen Schrittes kam Nathaniel auf sie zu, flankte über den Zaun und stellte sich neben sie. Josephines Atem setzte aus, als sie ihn betrachtete. Haarsträhnen hatten sich aus seinem Zopf gelöst und klebten auf seiner Haut. Tropfen sammelten sich in den Augenbrauen, rannen über seine Stirn und die Wangen, sammelten sich in der Vertiefung seiner Kehle und flössen in den Ausschnitt seines T-Shirts, das jetzt nicht mehr braun war, sondern schwarz. Es klebte wie eine zweite Haut an seiner Brust und am flachen Bauch, dessen Muskeln sich unter dem feuchten Stoff abzeichneten. Verdammt, sie musste sich zusammenreißen. Er war hier, um ihr zu helfen. Um das finanzielle Dilemma nicht noch größer werden zu lassen. Ein Geschäft. Nichts weiter.In ein paar Wochen würde er verschwinden und zurückkehren in eine Welt, die nicht für sie bestimmt war.
„Konntest du nicht schlafen?“, fragte er, während sein Blick in die Dunkelheit hinausschweifte.
„Doch.“ Josephine nahm einen tiefen Atemzug und zwang sich, ihren Blick abzuwenden. Vielleicht wurde sonst das Klopfen ihres Herzens so laut, dass er es hören konnte. Hilfreich zur Ablenkung war der inzwischen zurückgekehrte Hengst. Gerade so weit entfernt, dass sie seine Gestalt als cremeweiße Silhouette erkannte, buckelte er in den herabstürzenden Wasserkaskaden, schüttelte sich wie eine wild gewordene Katze und raste im Kreis herum.
„Du hast schlecht geträumt.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
„Ja.“
„Willst du darüber reden?“
Josephine schüttelte den Kopf. Sie sehnte sich in einem Ausmaß nach Trost, dass es körperlich schmerzte, doch niemals hätte sie es zugegeben. Schon gar nicht gegenüber diesem sonderbaren Menschen. Schwäche wurde in dieser Welt gnadenlos bestraft, und letztlich war der Trost, den sie brauchte, längst aus dieser Wirklichkeit verschwunden.
„Träume sind sehr wichtig“, Nathaniel wischte sich die nassen Strähnen aus dem Gesicht. „Sie weisen dir den Weg. Sie geben dir Antworten. Und sie sagen dir manchmal sogar, was du wirklich willst.“
„Das will ich nicht hoffen. Ich habe gesehen, wie jemand getötet wurde.“
„Man träumt logischerweise oft vom Tod.“ Er lächelte. Sein sonst so unnahbares Aristokratengesicht wurde weich. „Unser Dasein ist erfüllt von ihm. Wir können ihm nicht entkommen. Du hast jemanden verloren?“
„Daniel“, flüsterte Josephine. „Ich vermisse ihn. Selbst nach vier Jahren habe ich noch das Gefühl, er müsste gleich durch die Tür kommen.“
„Daniel war dein Mann?“
„Ja.“
„Was ist passiert?“ Er fragte ohne Sensationslust, die sonst in der Stimme der Menschen mitklang. Sein Interesse tat gut, und so erzählte sie ihm von dem Unfall. Es fiel ihr erstaunlich leicht. Sehr viel leichter als jemals zuvor. Schließlich, als Josephine in Schweigen verfiel, sagte er leise: „Du hast ihn sehr geliebt.“
Möglicherweise irrte sie sich, aber in seinen Worten schien Sehnsucht zu liegen. Er sah sie an, als hätten ihm ihre Worte irgendeine Art Erkenntnis vermittelt.
„Sehr“, murmelte Josephine. „Monatelang bin ich morgens aufgewacht und dachte, ich
Weitere Kostenlose Bücher