Nathaniels Seele
ertrage den Tag nicht, weil er nicht mehr da ist. Gewöhnt man sich jemals daran?“
„Nein.“ Nathaniel neigte leicht den Kopf. Sein Blick verlor sich irgendwo in den Pfützen aus Schlamm, die zu seinen Füßen glänzten. „Auch wenn man weiß, dass der Tod nicht das Ende ist, bleibt man doch allein zurück. Und wer will schon allein sein? Das ist der Fluch von allen, die lieben.“
„Du hast auch jemanden verloren.“
„Ja.“
„Wen?“
„Meine gesamte Familie. Meine Frau, meinen Sohn, meine Mutter, meinen Vater und meinen Bruder. Sie alle gingen voraus. Aber ich weiß, dass ich sie wiedersehen werde. Sie warten auf mich, und wenn wir wieder zusammen sind, gibt es ein großes Fest.“
Er sprach es so überzeugt aus. Unerschütterlich. Josephine spürte Neid auf seinen Glauben und sein Vertrauen darin aufsteigen.
„Als die Trauer noch frisch war“, setzte er hinzu, „dachte ich immer an Elche.“
„An Elche?“ Josephine lachte auf.
„Mein Stamm lebte früher an den Großen Seen. Dort erzählte man sich, dass sterbende Elche so weit wandern, bis sie ans Meer kommen. An seinem Ufer beenden sie ihr Leben und verwandeln sich in Wale.“
„Aha. Und worin liegt die Pointe?“
„Man gibt ein altes Leben auf um ein neues beginnen zu können. Man verdient sich seinen Platz in einem höheren Bewusstsein. Rede ich abgehoben?“
„Ein wenig.“
„Ich bin eine Rothaut. Ich kann nicht anders.“
„Dann glaubst du also an das Schicksal?“
„Natürlich.“
„Was ist mit deiner Familie pa…“ Eine unwirsche Handbewegung unterbrach Josephine und machte klar, dass er kein weiteres Wort darüber verlieren wollte. Also versuchte sie, einen neuen Faden aufzunehmen. „Warum willst du kostenlos für mich arbeiten? Raus mit der Sprache.“
„Was ich für meine Arbeit will, habe ich bereits gesagt. Ich brauche kein Geld. Nimm es hin und freu dich.“
„Du brauchst kein Geld? Wovon lebst du? Von Luft und Liebe? Oder beglückst du Touristen mit Kriegstänzen?“
„Das wäre erbärmlich.“ Er sprach es mit einer Schärfe aus, die unmissverständlich klarmachte, was er von solcherlei Dingen hielt.
„Was ist es dann?“
„Ich nehme eine … wie soll ich es formulieren? Eine wichtige Position in meinem Stamm ein. Das hast du vorhin ganz richtig erkannt. Als Gegenleistung sorgt man dafür, dass es mir an nichts mangelt. Ich bin nicht reich. Aber ich muss mir um meinenLebensunterhalt keine Sorgen machen.“
„Was ist das für eine wichtige Position?“ Josephine starrte auf Nathaniels Hand, die den obersten Querbalken umfasst hielt. Ihr Blick wanderte über die Adern, die sie überzogen, und blieb schließlich an den Fingern hängen. Sie waren lang und schlank. Ihnen war anzusehen, wie kraftvoll sie zupacken konnten.
„Soweit mich meine Erinnerung nicht trügt, bestand eine meiner Bedingungen darin, nicht mit Fragen gelöchert zu werden.“ Nathaniel warf ihr einen forschenden Seitenblick zu. Er tat es auf solch hochmütige Weise, dass Josephine kaum wusste, wo ihr Zorn endete und die bissige Art von Bewunderung begann, die er in ihr auslöste. Zerknirscht heftete sie ihren Blick auf seine Armbeuge. Ein Regentropfen glänzte dort, wo die Ader deutlich sichtbar unter der Haut pulsierte.
„Du verletzt gerade unsere Vereinbarung.“ Nathaniels Stimme riss sie aus seltsamen Gedanken. „Wir hätten etwas Schriftliches aufsetzen sollen. Dann könnte ich dir für jede Frage eine Vertragsstrafe aufbrummen.“
„Okay.“ Josephine zuckte die Schultern und zwang sich, in den Regen hinauszustarren. Sein Rauschen war beruhigend. Oder hätte es wenigstens sein sollen. „Themawechsel?“
„Themawechsel.“
„Vielleicht kannst du mir sagen, warum du das Pferd bei diesem Unwetter hier raus bringst? In den Cremello setze ich alle verbliebene Hoffnung. Wenn ihm was passiert, dann …“
„Sieh ihn dir an“, unterbrach Nathaniel. „Er ist für ein Pferd ziemlich ungewöhnlich. Er liebt den Regen und die Nacht. Er liebt den Schlamm und das nasse Gras. Deswegen war er so unausgeglichen. Er bekam nicht das, was er wollte. Alles hat seinen Grund, Liebes. Zorn kommt nicht von ungefähr. Genauso wenig wie Unzufriedenheit.“
Liebes? Er hatte sie allen Ernstes Liebes genannt?
„Woher wusstest du, was er braucht?“
Nathaniel lächelte. Nachdenklich drehte er den Onyxring an seinem rechten Zeigefinger. „In meinem Volk glaubt man daran, dass jeder mit einer Gabe auf die Welt kommt. Meine liegt darin.
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